VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 12.10.2007 - 13 K 2341/07.A - asyl.net: M11840
https://www.asyl.net/rsdb/M11840
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen schlechter Sicherheitslage in Somalia

 

Schlagwörter: Somalia, Gebietsgewalt, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Clans, Rahawein, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, interne Fluchtalternative
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen schlechter Sicherheitslage in Somalia

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte.

Eine vom Staat ausgehende Verfolgung i.S.d. Art. 16 a GG kann schon deshalb nicht festgestellt werden, weil Somalia - mit Ausnahme möglicherweise des Nordwesten des Landes ("Republik Somaliland") - das Merkmal der (Quasi-) Staatlichkeit nicht erfüllt.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie auf die Feststellung, das die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1AufenthG im Hinblick auf Somalia vorliegen (§ 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG).

Dass der Klägerin wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Rahawein Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c AufenthG drohen könnte, vermag das Gericht nicht festzustellen. Unabhängig von der insgesamt prekären Sicherheitslage hat kein Somali zu befürchten, allein wegen seiner Clanzugehörigkeit verfolgt oder gar getötet zu werden (so auch schon Prof. Maho Aves, Gutachten vom 26. November 2001 für das Verwaltungsgericht Hannover; ders. Gutachten vom 27. Dezember 2001 für das Verwaltungsgericht Düsseldorf).

Dabei verkennt das Gericht nicht, dass das Risiko, Opfer krimineller Übergriffe oder sonstiger Repressalien zu werden, auch davon abhängt, in welchem Umfang der Betroffene durch seinen Clan geschützt wird und dass dieser Schutz für Angehörige kleiner Clans oder sonstiger Minderheiten tendenziell schwächer ausgeprägt ist als bei Angehörigen großer Clans. Gleichwohl knüpfen etwaige Übergriffe auch in diesen Fällen nicht an die Clanzugehörigkeit an, sondern an das - von den jeweiligen Angreifern angenommene - geringere Risiko. Bei dieser Einschätzung wird zwar auch der Clanzugehörigkeit des Betroffenen Bedeutung zukommen; dies ist jedoch nicht der allein maßgebliche Faktor. Dementsprechend kann eine Gefahr der Verfolgung wegen der Clanzugehörigkeit nicht festgestellt werden. Die - auch nach Auffassung des Gerichts durchaus beachtliche - Gefahr, Opfer kriminellen Unrechts zu werden, ist im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht ausreichend, sondern kann erst im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG Beachtung finden.

Entsprechendes gilt für die von der Klägerin angeführte Gefahr der Verfolgung wegen ihres Geschlechts. Zwar ist die Lage von Frauen und Mädchen in Somalia durch eine besondere Gefährdung, durch Gewaltanwendung und vielfältige Benachteiligung gekennzeichnet (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebugsschutzrelevante Lage in Somalie vom 17. März 2007, S. 5, 11 f.).

Ebenso wie im Hinblick auf die Clanzugehörigkeit vermag das Gericht aus den ihm vorliegenden Erkenntnissen jedoch nicht abzuleiten, dass Frauen in Somalia allgemein wegen ihres Geschlechts Verfolgung droht. Auch die Klägerin hat hierzu nichts Näheres vorgetragen. Dass Frauen in Somalia wegen ihrer grundsätzlich schwächeren Stellung in höherem Maße Gefahr laufen mögen, Opfer kriminellen Übergriffe zu werden, genügt nicht, um die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG zu bejahen.

Demgegenüber ist der angegriffene Bescheid rechtswidrig und verletzt er die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO), soweit das Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt und der Klägerin die Abschiebung nach Somalia angedroht hat. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Somalias vorliegen.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind im Fall der Klägerin mit Blick auf ihre familiäre Situation und die allgemeinen Verhältnisse in Somalia erfüllt. Gefahren in einem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden allerdings gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG können es in besonderen Ausnahmesituationen jedoch gebieten, die Vorschrift des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgeschlossen ist. Davon ist dann auszugehen, wenn sich eine allgemeine Gefahrenlage als so extrem darstellt, dass jeder einzelne Rückkehrer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde, genereller Abschiebungsschutz aber nicht gewährt worden ist.

Diese Voraussetzungen sind hier in Bezug auf eine Rückkehr der Klägerin nach Somalia erfüllt.

Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die Sicherheitslage in Zentral- und Südsomalia einschließlich der Hauptstadt Mogadischu aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen sowie durch die allgemeine Kriminalität mangels effektiver Sicherheitsstrukturen äußerst prekär ist (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsschutzrelevante Lage in Somalia vom 17. März 2007, S. 5: "Anarchie und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen weiterhin in großen Teilen des Landes", s.a. S. 15: "extrem schlechte Sicherheitslage"; ähnlich bereits Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsschutzrelevante Lage in Somalia vom 7. Februar 2006, S. 8: amnesty international, Jahresbericht 2007, Somalia; Freedom House, Freedom in the World, Report Somalia).

Die Entwicklungen in Somalia in den letzten Monaten haben nicht zu einer Verbesserung der Situation geführt.

Auch wenn es hiernach zwischenzeitlich zu einer gewissen Beruhigung der Lage gekommen war, war schon diese durch eine deutliche Instabilität geprägt (United Kingdom Home Office, Report of Fact Finding Mission 11 - 15 June 2007, vom 20. Juli 2007, Rdn. 4.02 f. und 4.28 ff. zur Situation in Mogadischu, Rdn. 5.01 zur Situation in den übrigen Teilen des Landes; Neue Zürcher Zeitung, 26. Juni 2007, Artikel: "Ende der Anarchie trotz andauerndem Krieg in Mogadischu - Aufbau rudimentärer staatlicher Strukturen - Widerstand der Islamisten").

Seitdem hat sich die Lage erneut deutlich verschlechtert. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien, bei denen regelmäßig auch zivile Opfer zu beklagen sind (BBC, 23. Juli 2007, Artikel "Somalis flee as attacks escalate", IRINnews.org, 10. August 2007, Somalia: Five police stations attacked overnight in Mogadishu; IRINnews.org, 14. August 2007, Somalia: Policemen killed as bloodshed in Mogadishu continues; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. September 2007, Artikel "Gewaltausbruch in Somalia").

Auch die jüngsten Entwicklungen lassen eine Beruhigung der Situation in absehbarer Zeit nicht erwarten: Mitte September haben islamistische und andere oppositionelle Gruppierungen bei einem Treffen in der eritreischen Hauptstadt Asmara ein Bündnis geschlossen, dessen "erste Option die Befreiung Somalias durch den bewaffneten Kampf" sein soll (Johannes Dieterich, in Frankfurter Rundschau, 14. September 2007, Artikel "Islamisten verbünden sich mit Kriegsfürsten - Opposition droht Somalias Regierung mit Sturz").

Seitdem sollen die Kämpfe nochmals deutlich aufgeflammt sein. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. September 2007, Artikel: "Gefechte in Somalia - Islamisten und regierungsfeindliche Clans rufen zum Aufstand auf ; International Herald Tribune, 27. September 2007, Artikel: "Somalia on edge of survival as chaos reigns").

Der in dem angegriffenen Bescheid vertretenen Einschätzung des Bundesamtes, in einem bedeutenden Teil Zentral- und Südsomalias sei infolge der Machtübernahme durch die UIC weitgehende Ruhe eingekehrt und Kampfhandlungen fänden dort nicht statt, ist dementsprechend durch die jüngsten Ereignisse der Boden entzogen worden.

Auch durch die Aussage in dem angefochtenen Bundesamtsbescheid, "aus zahlreichen Anhörungen" gehe hervor, dass sichere Landesteile gefahrlos erreichbar seien (Seite 12 des Bescheides), wird die oben dargestellte Bewertung der Lage nicht substanziell erschüttert. Abgesehen davon, dass auch dieser Einschätzung durch die jüngsten Ereignisse der Boden entzogen ist, lässt die Aussage des Bundesamtes nicht erkennen, ob etwa Umstände des einzelnen Falles - z.B. die Clanzugehörigkeit oder die wirtschaftliche Möglichkeit, für die eigene Sicherheit zu sorgen - eine ansonsten möglicherweise bestehende Gefahr minimiert haben.

Da die aktuelle Situation in Zentral- und Südsomalia nach alledem durch ständige kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppierungen, durch eine hohe Kriminalitätsrate und durch die faktisch vollständige Abwesenheit staatlicher Sicherheitsstrukturen geprägt ist, würde eine Rückkehr in diese Gebiete die Klägerin sehenden Auges einer im Sinne der Rechtsprechung extremen Gefahr für Leib und Leben aussetzen. Zwar kann naturgemäß nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass sich eine solche Gefahr realisieren würde. Bei der Gefahrenbewertung ist aber auch der Rang der gefährdeten Verfassungsrechtsgüter zu berücksichtigen. Angesichts der oben beschriebenen aktuellen Situation in Zentral- und Südsomalia läuft jeder Rückkehrer jederzeit Gefahr, Opfer krimineller Übergriffe, Opfer von Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Clans und/oder Opfer der Kämpfe zwischen den Regierungstruppen nebst ihren Verbündeten und den Kämpfern der Oppositionsallianz zu werden. Anhaltspunkte dafür, dass die Situation der Klägerin auf Grund besonderer Umstände ihres Einzelfalles anders zu beurteilen sein könnte, sind nicht ersichtlich. Damit wiegt die ihr für Leib und Leben drohende Gefahr nach Auffassung des Gerichts so schwer, dass ihr eine Rückkehr in ihr Heimatland derzeit nicht zugemutet werden kann. Eine Rückführung nach Somalia würde sie sehenden Auges den o.g. Gefahren aussetzen und damit der Gefahr schwerster Verletzungen oder gar des Todes.

Die Klägerin kann schließlich auch nicht darauf verwiesen werden, in den sichereren nördlichen Landesteilen Schutz zu suchen. Insoweit fehlt ihr der notwendige Rückhalt durch Angehörige oder jedenfalls Clanmitglieder, der ihr dort ein Überleben ermöglichen würde.