LSG Niedersachsen-Bremen

Merkliste
Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.10.2007 - L 11 AY 15/07 ER u.a - asyl.net: M11844
https://www.asyl.net/rsdb/M11844
Leitsatz:

Rechtsmissbräuchliches Verhalten schließt Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur dann aus, wenn es sich konkret und kausal auf die Aufenthaltsdauer auswirkt.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Privatleben, Integration, Verhältnismäßigkeit, Serbien, Kosovo, Roma, Falschangaben, Eltern, Zurechenbarkeit, Kausalzusammenhang, Mitwirkungspflichten, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2; EMRK Art. 8
Auszüge:

Rechtsmissbräuchliches Verhalten schließt Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nur dann aus, wenn es sich konkret und kausal auf die Aufenthaltsdauer auswirkt.

(Leitsatz der Redaktion)

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf eine streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Steht der Antragstellerin ein von ihr geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihr nicht zuzumuten den Ausgang des Verfahrens abzuwarten, hat die Antragstellerin vorläufig Anspruch auf die beantragte Leistung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

Dies zugrunde gelegt, hat die Antragstellerin die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch auf Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit den Regelungen des SGB XII ab Antragstellung hinreichend glaubhaft gemacht.

Im Streit steht allerdings, ob die Antragstellerin die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat.

Die Antragstellerin hat sich im Beschwerdeverfahren auf ihre "faktische Inländereigenschaft" als Folge des 20jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik und einer sozialen Integration berufen. Ihre deutsche Prägung sei durch den erfolgreichen Schulabschluss in Deutschland, über die deutsche Sprache und über das damit verbundene soziale Umfeld erfolgt. Sie hat sich auch darauf berufen, keine Beziehungen zu ihrer Muttersprache und auch keine Beziehungen zu ihrem Heimatland mehr zu haben. Während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik hat die Antragstellerin zwei Kinder in der Bundesrepublik geboren, von denen der älteste Sohn jetzt den Kindergarten besuchen wird.

Eine - von der Antragstellerin behauptete - erfolgreiche Integration in die deutsche Gesellschaft kann ein rechtliches Hindernis i.S.v. Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) begründen.

Artikel 8 Abs. 1 EMRK schützt das Recht auf Achtung des Privatlebens. Dieses Recht umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und die angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt. Ein Eingriff in diese Rechte muss gemäß Artikel 8 Abs. 2 EMRK eine notwendige Maßnahme darstellen und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2007, Az: 2 BvR 304/07 m.w.N. für die Rspr. des EuGH).

Eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist bei Ausländern in Betracht gezogen worden, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Februar 2007, Az: OVG 11 S 87.06, InfAuslR 2007, S. 236, 238). Vorliegend ist unstreitig, dass die Antragstellerin als Kind in die Bundesrepublik eingereist ist und die Schulausbildung hier erfolgreich absolviert hat. An die berufliche bzw. wirtschaftliche Integration können derzeit keine besonderen Anforderungen gestellt werden, weil die ledige Antragstellerin ihre beiden Kleinkinder betreut. Es kann nicht außer acht gelassen werden, dass die wirtschaftliche Integration durch den fehlenden Ausländerstatus und die "Kettenduldungen" ungleich erschwert worden ist.

Die hinreichende soziale Integration der Antragstellerin in die deutsche Gesellschaft wird allerdings im Hauptsacheverfahren weiter aufzuklären und ggfs. mit der notwendigen richterlichen Überzeugungsbildung festzustellen sein.

Die seitens der Antragstellerin vorgetragenenen Gründe reichen im summarischen Verfahren aus, um derzeit von einer überwiegend wahrscheinlichen Unzumutbarkeit der Ausreise auszugehen, zumindest solange bis die weitere Sachverhaltsaufklärung im Hauptsacheverfahren abgeschlossen ist.

Das der Antragstellerin vom SG und vom Antragsgegner vorgeworfene rechtsmissbräuchliche Verhalten, das im gezielten Verschweigen der Roma-Volkszugehörigkeit bis zum Jahr 2000 begründet ist, führt hier zu keinem anderen Ergebnis. Sollte im Hauptsacheverfahren festgestellt werden, dass die Ausreise der Antragstellerin aus den oben genannten Gründen unzumutbar ist, hätte das in der Vergangenheit liegende Verhalten angesichts des aktuellen Bleibegrundes keine maßgeblich kausale Relevanz mehr. Hierbei war auch zu berücksichtigen, dass sich die Antragstellerin das rechtmissbräuchliche Verhalten ihrer Eltern im wesentlichen als Kind hat zurechnen lassen müssen, dass sie seit dem Jahr 2000 keine falschen Angaben zur Herkunft und Identität mehr gemacht hat und der Ausländerbehörde im November 2006 einen gültigen Pass vorgelegt hat.

Der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass er sich der sog. "abstrakten Betrachtungsweise", wonach es für die Beurteilung der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes darauf ankommen soll, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten generell geeignet ist, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen, und zwar unabhängig davon, ob sich die Verlängerung des Aufenthalts bereits realisiert hat oder der kausale Zusammenhang dadurch weggefallen ist, dass zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und dem Leistungsantrag die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt worden ist, nicht anzuschließen vermag (vgl. die Rspr. des 7. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20. Dezember 2005, Az: L 7 AY 40/05). Nach Auffassung des erkennenden Senates kommt es darauf an, ob sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten konkret und kausal verlängernd auf die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik ausgewirkt hat bzw. noch auswirkt. Nur wenn ein solcher kausaler Zusammenhang mit der notwendigen richterlichen Überzeugungsbildung festgestellt werden kann, kann sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten auch leistungseinschränkend auswirken. Das kausale, vorwerfbare Verhalten muss aber im streitgegenständlichen Leistungszeitraum noch fortwirken (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Juli 2007, Az: L 11 AY 12/06 ER).

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Sie bezieht seit Jahren sog. Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG. Diese Leistungen dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Gegenüber den Leistungen der Sozialhilfe sind diese Leistungen aber deutlich abgesenkt. Die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragstellerin derzeit Leistungen auf Sozialhilfeniveau zustehen, spricht auch für die Eilbedürftigkeit dieser Regelungsanordnung. Sie dient der Beseitigung einer existenziellen Notlage (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 8. Februar 2001, Az: 4 M 3889/00). Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nicht vor, da die Leistungen nur vorläufig zugesprochen worden sind.