VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 02.08.2007 - 9 K 3683/06.A - asyl.net: M12020
https://www.asyl.net/rsdb/M12020
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen fehlender Möglichkeit, das Existenzminimum bei Rückkehr nach Kabul zu sichern.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Situation bei Rückkehr, Konversion, Apostasie, Christen, Kabul, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen fehlender Möglichkeit, das Existenzminimum bei Rückkehr nach Kabul zu sichern.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Soweit der Kläger die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG erstrebt, hat die Beklagte ihr Ermessen über das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG fehlerhaft ausgeübt; indem sie auf der Basis der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen.

Eine individuelle, gerade in seinen persönlichen Eigenschaften und Verhältnissen angelegte Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht dem Kläger trotz seiner Konversion zum Christentum mit Blick auf seine altersbedingte, mangelnde Fähigkeit, sich zum Christentum zu bekennen, nicht.

Die danach bestehende "Sperrwirkung" des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist hier aber durchbrochen, weil davon auszugehen ist, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein wird, weil er nicht in der Lage wäre, sich im alltäglichen Existenzkampf zu behaupten. Dies gilt selbst dann, wenn er sich - einmal unbetrachtet gelassen, ob die Konversion der Eltern zum Christentum nicht deren Rückkehr nach Afghanistan entgegensteht - mit seinen Eltern nach Kabul begeben würde.

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist insgesamt betrachtet angespannt und im Raum Kabul trotz der Präsenz der ISAF fragil (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 17. März 2007 (Stand: Februar 2007), S. 9).

Die Versorgung der Bevölkerung hat sich in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten zwar in der Vergangenheit grundsätzlich verbessert (vgl. Auswärtiges Amt; Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 17. März 2007 (Stand: Februar 2007), S. 24).

Allerdings profitieren mangels Kaufkraft nicht alle Bevölkerungsschichten von der verbesserten Lage. Insbesondere sieht sich die nicht wohlhabende Bevölkerung mit einer unzureichenden Trinkwasser- und Nahrungsmittelversorgung sowie extremer Wohnungsnot konfrontiert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 17. März 2007 (Stand: Februar 2007); S. 24, amnesty international, Gutachten vom 17. Januar 2007 für den Hessischen VGH, S. 4 f.; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 04. Dezember 2006 für den Hessischen VGH, S. 29 ff.).

Angesichts der großen Zahl von Rückkehrern und der prekären Sicherheitslage sind auch die Hilfsorganisationen allenfalls in der Lage eine minimale Grundversorgung zu Gewähr leisten (vgl. amnesty international, Gutachten vom 17. Januar 2007 für den Hessischen VGH, S. 4 f.).

Personen, die nicht in noch bestehende Familien- oder Stammesstrukturen zurückkehren können, die ihnen bei einer Wiedereingliederung behilflich sind, haben in der Regel keine Möglichkeit; sich selbst den Lebensunterhalt zu erarbeiten und eine adäquate Unterkunft zu erlangen.

Insbesondere Flüchtlinge, die nach längerer Abwesenheit aus dem westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen auf größere Schwierigkeiten, wenn ihnen das in Afghanistan notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen. Sie können auf überhöhte Erwartungen hinsichtlich ihrer finanziellen Möglichkeiten treffen, sodass von ihnen überhöhte Preise gefordert werden. Von den "Zurückgebliebenen" werden sie häufig nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert (vgl. Auswärtiges Amt; Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 17. März 2007 (Stand: Februar 2007); S. 24 f.; amnesty international, Gutachten vom 17. Januar 2007 für den Hessischen VGH, S. 5 und 8).

Nach einer Studie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz benötigt eine sechsköpfige Familie in Kabul heute monatlich wenigstens 100 US-Dollar, um sich mit Nahrung und Heizmaterialien versorgen zu können (vgl. ICRC: Statistics an Inflation, Genf/Kabul 2003, zitiert nach: Hinz, Ein Ende für die afghanische Tragödie?, in: Informationsverbund Asyl e.V. (Hrsg.), Zur Lage in Afghanistan, S. 2 (3 f.)).

Georg David, der für die IOM Im Rahmen des RANA-Programms Rückkehrer in Kabul betreut hat, ging bei seiner Anhörung durch das OVG Berlin-Brandenburg am 27. März 2006 davon aus, dass 200 US-Dollar erforderlich sind. Mietkosten sind in den Summen jeweils nicht enthalten.

Es ist nicht ersichtlich, dass der Vater des Klägers nach sechsjähriger Abwesenheit von Kabul Erträge aus seiner früheren Tätigkeit wird erzielen können. Sollte er sich als Tagelöhner verdingen, wäre mit einem durchschnittlichen Tageslohn von 100 Afghanis zu rechnen, das sind ca. 1,80 US-Dollar (vgl. Hinz, Ein Ende für die afghanische Tragödie?, in: Informationsverbund Asyl e.V. (Hrsg.), Zur Lage in Afghanistan, S. 2 (3 - Fn. 9 -).

Selbst wenn der Vater des Klägers jeden Tag im Monat beschäftigt würde, käme er nur auf ein Einkommen von knapp 55,00 US-Dollar, das auch für die Versorgung seiner vierköpfigen Familie nicht ausreichen würde.

Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Mutter des Klägers zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann. Sie muss sich vor allem um den erst ein Jahr alten Kläger und seine Schwester kümmern.

Dass der Kläger mit seinen Eltern und seiner Schwester bei Familienangehörigen unterkommen könnte ist nicht ersichtlich, Selbst wenn - entgegen den glaubhaften Schilderungen der Eltern des Klägers - Familienangehörige in Kabul lebten, ist nicht ersichtlich, dass deren wirtschaftliche Situation es zuließe, den Kläger und seine Eltern zusätzlich aufzunehmen und zu versorgen.