VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 21.11.2007 - A 11 K 939/06 - asyl.net: M12133
https://www.asyl.net/rsdb/M12133
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage für jungen männlichen Afghanen ohne familiäre Unterstützung in Afghanistan; schlechte Versorgungslage in Kabul; keine Unterstützung durch Hilfsorganisationen in Kabul mehr.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Versorgungslage, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Situation bei Rückkehr, Wohnraum, Kabul, IOM, RANA-Programm
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage für jungen männlichen Afghanen ohne familiäre Unterstützung in Afghanistan; schlechte Versorgungslage in Kabul; keine Unterstützung durch Hilfsorganisationen in Kabul mehr.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger kann sich wegen der schlechten Versorgungslage derzeit auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG berufen.

Die allgemeine Versorgungslage ist derart schlecht, dass sich hieraus eine extreme Gefahr für diejenigen Rückkehrer ergeben kann, die nicht auf eine Familie zurückgreifen können. Nach der bisherigen Rechtsprechung des VG Karlsruhe galt dies für die Bevölkerungsgruppe der langjährig in Europa ansässigen nicht freiwillig zurückkehrenden Flüchtlinge, die nicht auf den Rückhalt von Verwandten oder Bekannten/Freunden in Afghanistan und/oder dortigen erreichbaren Grundbesitz zurückgreifen können und/oder über für ein Leben am Existenzminimum ausreichende Ersparnisse verfügen und die deshalb außer Stande sind, aus eigener Kraft für ihre Existenz zu sorgen (VG Karlsruhe, Urt. v. 13.11.2007 - A 11 K 517/06 -, Urt. v. 29.03.2006 - A 10 K 10740/04 - u. Urt. v. 21.12.2005 - A 10 K 12651/02 -; i. Erg. ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Urteile v. 05.05.2006 - 12 B 11.05 u. OVG 12 B 9.05 -; VG München, Urt. v. 26.09.2007 - M 23 K 07.50548 - m.w.N. u. Urt. v. 09.03.2007 - M 23 K 07.50194 - u. Urt. v. 12.03.2007 - M 23 K 04.51881 - <jeweils in juris>; VG Frankfurt, Urt. v. 06.06.2007 - 3 E 4744/05.A - für alleinstehende junge Männer <juris> u. VG Frankfurt, Urt. v. 30.05.2007 - 3 E 614/04.A - für Frauen <juris>; a.A. OVG Sachsen, Urt. v. 23.08.2006 - A 1 B 58/06 - <juris>; OVG NW, Urt. v. 02.01.2007 - 20 A 424/05.A - u. Urt. v. 21.03.2007 - 20 A 5164/04.A - in besonders gelagerten Einzelfällen u. Urt. v. 05.04.2006 - 20 A 5161/04.A - <jeweils in juris>). Dies gilt auch in anderen besonders gelagerten Einzelfällen, beispielsweise für alte, behinderte oder schwer erkrankte Personen, die nicht auf eine Hilfestellung durch Bezugspersonen in Afghanistan zurückgreifen können. Das erkennende Gericht schließt sich dem mit Rücksicht auf die derzeitige (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) Versorgungslage in Afghanistan an. Zur Beurteilung der Versorgungslage existieren mehrere unterschiedliche Quellen, die kein einheitliches Bild ergeben. Die Berichte aus jüngster Zeit lassen aber darauf schließen, dass sich die allgemeine Versorgungslage zunehmend verschlechtert und insbesondere durch die Preissteigerung auf dem Wohnungsmarkt verschärft hat, dass für den genannten Personenkreis eine extreme Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG anzunehmen ist.

Der jüngste Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17.03.2007 führt zur Versorgungslage in Übereinstimmung mit dem Lagebericht vom 13.07.2006 Folgendes aus (Ziff. IV. 1.): Die Vereinten Nationen versorgen weiterhin noch Millionen von Afghanen mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern. Die Versorgungslage hat sich in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten zwar grundsätzlich verbessert, wegen mangelnder Kaufkraft profitieren jedoch längst nicht alle Bevölkerungsschichten von der verbesserten Lage. Die Versorgung mit Wohnraum ist unzureichend.

Ein weitgehend düsteres Bild zeigt der Sachverständige Dr. Danesch über die tatsächlichen Verhältnisse auf, mit denen sich Asylbewerber nach ihrer Abschiebung konfrontiert sehen. Nach dessen auf einer Reise durch Afghanistan im Dezember 2005 gewonnenen Erfahrungen ist die Lage zurückkehrender Flüchtlinge so katastrophal, dass sie unmittelbar eine Existenzgefährdung für die Betroffenen darstellt (Dr. Danesch, Stellungnahmen v. 24.07.2004 an das OVG Bautzen, v. 25.01.2006 an das VG Hamburg u. v. 04.12.2006 an den VGH Kassel). Dr. Danesch weist insbesondere darauf hin, dass sich die Versorgungslage besonders in Kabul drastisch verschlechtert habe. Tag für Tag verhungerten in Kabul Menschen. Seinen Ausführungen zufolge ist in den letzten Jahren die Bevölkerungszahl Kabuls so sprunghaft angestiegen, dass nach offiziellen Angaben mittlerweile 4,5 Mio. Menschen dort leben. Insgesamt seien nach Angaben der UNHCR bis heute rund 4,4 Mio. Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt. Gerade durch den massenhaften Zustrom habe sich in den letzten Jahren die Versorgungslage in Kabul noch einmal massiv verschärft.

Diese Beurteilung deckt sich in den hier interessierenden Punkten im Wesentlichen mit den Aussagen des in der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht Karlsruhe am 13.11.2007 im Verfahren A 11 K 507/06 vernommenen Zeugen .... Der Zeuge ist der Sohn des zum Termin geladenen Dolmetschers; er hielt sich in den letzten beiden Jahren zwei Mal längere Zeit in Kabul auf; im Jahr 2005 arbeitete er einige Monate im Umwelt- und Städtebauministerium. Er bestätigte vor allem die Angaben des Dr. Danesch, dass Kabul von der Bevölkerungszahl her stark gewachsen sei und die Preise für Wohnraum in die Höhe geschnellt seien sowie dass bezahlbarer Wohnraum nicht auf dem Wohnungsmarkt zu finden sei.

Im Unterschied zu anders lautenden Quellen teilte der Zeuge ... mit, in Kabul seien keinerlei Hilfsorganisationen mehr tätig. Diese befänden sich in den Provinzen. In Kabul habe er nur wenige Zelte angetroffen, die von Menschen bewohnt würden, die gewissermaßen wie Zigeuner lebten. Sie wanderten in wärmere Städte, wenn es in Kabul kalt werde. Der Zeuge ... war dahin zu verstehen, dass er in Kabul keine Hilfsorganisationen antreffen konnte, die dort ihre Hilfe in Form von Wohnungen, Lagern, Zelten oder Lebensmittelausgaben angeboten hätten. Es bestehen keine Anhaltspunkte gegen die Richtigkeit der Angaben des Zeugen ....

Zu den Lebensverhältnissen in Kabul hat sich ferner der als sachverständiger Zeuge vom OVG Berlin-Brandenburg angehörte David, ein ehemaliger Mitarbeiter des Bundesamtes, geäußert (s. Niederschrift des OVG Berlin-Brandenburg v. 27.03.2006 - OVG 12 B 9.05 und OVG 12 B 11.05 -). Selbst wenn die Beobachtung Davids hinsichtlich eines Übergangswohnheims im Südwesten der Stadt in der Vergangenheit zutreffend gewesen wäre, ist derzeit ein solches Übergangswohnheim wegen der Beendigung des RANA-Programms nicht mehr existent. Ein solches Übergangswohnheim konnte auch der Zeuge ... nach seinen Eindrücken von Kabul aus den Jahren 2005 und 2006 nicht bestätigen. Von einer derartigen vorübergehenden (Wohn-)Hilfe ist im Bericht von IOM vom 07.12.2006 an OVG Bautzen ebenfalls nicht die Rede; eine Übernachtung wird lediglich für diejenigen Rückkehrer/innen angeboten, welche nicht direkt zu ihrem Bestimmungsort außerhalb Kabuls weiterreisen können. Die weiteren Empfehlungen des sachverständigen Zeugen David für Rückkehrer, in den Westen und Süden auszuweichen, sind im Hinblick auf die mittlerweile eingetretene Verschlechterung der Sicherheitslage im Süden und Westen überholt. Die in der Rechtsprechung angenommene Vermutung, dass in Mangelsituationen Lebensstrategien entwickelt werden, die für die überwiegende Mehrheit eine Existenz auf niedrigstem Niveau ermöglicht (OVG Sachsen, Urt. v. 23.08.2006, a.a.O.), ist durch nichts belegt.

Der Kläger gehört zu dem obengenannten Personenkreis, weil davon auszugehen ist, dass er in Afghanistan keine Familienangehörigen mehr hat.

Die im Bundesgebiet gewonnenen allgemeinen Erfahrungen und die Fähigkeiten aufgrund des Berufsvorbereitungsjahres sowie seine Deutschkenntnisse stellen nach der Einschätzung des Gerichts in Kabul und in sonstigen Teilen Afghanistans derzeit keine ausreichende Qualifikation dar, die es ihm ermöglicht, auf dem Arbeitsmarkt sofort nach seiner Rückkehr eine Arbeitsstelle zu finden und ohne soziales Netz trotz der hohen Lebenshaltungskosten und Mietpreise seine Lebensgrundlage zu sichern. Nach den in die mündliche Verhandlung eingeführten Angaben des Zeugen .... (s. Niederschrift v. 13.11.2007 im Verfahren 11 K 507/06) finden in Kabul Ausgebildete unproblematisch eine Arbeitsstelle. Als Ausgebildeter kann der Kläger aber auch nicht qualifiziert werden. Selbst in diesem günstigsten Fall eines Ausgebildeten ist es aber einer alleinstehenden Person - ohne Kapital - nicht möglich, die in Kabul grundsätzlich für ein Jahr im Voraus zu bezahlende Miete für Wohnraum unmittelbar nach seiner Ankunft aufzubringen. Deutschkenntnisse dürften die Chance, sofort eine Arbeitsstelle zu finden, nicht erhöhen. Denn Arbeitsplätze, bei denen Deutschkenntnisse vorteilhaft sind, gibt es nicht, jedenfalls nicht für ungelernte Kräfte. Wie den weiteren Angaben des Zeugen zu entnehmen ist, investieren in Afghanistan vor allem Firmen aus den Nachbarländern, Iran, Pakistan, Turkmenistan und der Türkei. Dabei geht es vorwiegend um Bauprojekte, wobei Bauarbeiten anfallen. Deutschkenntnisse sind hierbei nicht gefragt. Nach den glaubhaften Angaben des Klägers kann nicht angenommen werden, dass seine Familie ihm Kapital zur Verfügung stellen kann. Ohne Startkapital kann er nicht eine gewisse Zeit ohne Einkommen in Kabul verbringen, ohne einer extremen Gefahr ausgesetzt zu sein. Die ihm in den Wahlfächern während des Berufsvorbereitungsjahres vermittelten Grundkenntnisse werden sich für ihn bei der Suche nach einem Arbeitsplatz in Afghanistan, insbesondere in Kabul, zwar als vorteilhaft erweisen und es wird, ihm leichter fallen, auf seinen Grundkenntnissen aufzubauen, was seine Chancen, auf dem Arbeitsmarkt vermittelt werden zu können, erhöht. Diese für ihn günstigen Gesichtspunkte reichen aber nicht aus, um die mit den hohen Lebenshaltungskosten bzw. der schlechten Versorgungslage verbundene extreme Gefahr in seinem Falle verneinen zu können. Denn dem Kläger fehlt das erforderliche Startkapital, das er zum Überleben in Afghanistan zumindest für eine Anfangszeit benötigen wird. Er kann nicht auf familiäre oder soziale Kontakte zurückgreifen.