VG Braunschweig

Merkliste
Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 12.12.2007 - 5 A 233/07 - asyl.net: M12291
https://www.asyl.net/rsdb/M12291
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Sippenhaft, PKK, Verdacht der Unterstützung, Menschenrechtslage, Reformen, politische Entwicklung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Haftbefehl
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtene Widerrufsverfügung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Hinsichtlich der Situation von Kurden, die in der Türkei in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten sind und zur Menschenrechtslage nach Einleitung des Reformprozesses in der Türkei hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht grundlegend (Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, Rechtsprechungsdatenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im Internet) festgestellt, dass auch nach der Einleitung bzw. Durchführung des Reformprozesses und der Neufassung der Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes weiterhin im Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung angenommen werden muss. Zwar würden auch von den Menschenrechtsorganisationen die Erfolge dieser Reformpolitik, die auf Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit setze, grundsätzlich anerkannt. Allerdings gehe die Umsetzung einiger Reformen langsamer als erwartet voran. Der erforderliche Mentalitätswandel habe noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, der Verwaltung und der Justiz vollständig erfasst. Dies führe dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück bleibe. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlung sowie ihre lückenlose Strafverfolgung seien noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung wirke sich auch das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus. Hierzu gebe es Informationen über gewaltsame Auseinandersetzungen und eine große Anzahl von Festnahmen. Noch Ende März 2006 sei es in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten bei Zusammenstößen zwischen kurdischen Demonstranten aus dem Umfeld der PKK und staatlichen Sicherheitskräften zu mindestens 15 Todesopfern und mehreren hunderten Verletzten gekommen. Die Unruhen weiteten sich auf die Städte im Westen der Türkei aus. Noch hätten sich die Hoffnungen der kurdischen Minderheit im Südosten der Türkei auf Verbesserung ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage weitgehend nicht erfüllt. Es gebe weiterhin Festnahmen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK. Aufgrund der neu gefassten Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes bestehe die Gefahr, dass die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Sympathie für die kurdische Sache äußern, künftig erleichtert würde. Darüber hinaus könnten Angeklagte in der Türkei, die eines politischen Delikts beschuldigt werden, nach Gutachtenlage auch weiterhin nicht mit einem fairen Strafverfahren rechnen.

Diesen Feststellungen schließt sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung (beginnend mit Urteil vom 24.10.2006 - 5 A 490/03 -) an und stellt auf der Grundlage des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes und allgemein zugänglicher Zeitungsberichte ausdrücklich fest, dass sich an der beschriebenen Lage nichts verbessert hat. Es bestehen danach bereits erhebliche Zweifel daran, ob in der Türkei generell eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems stattgefunden hat, wie sie nach dem oben Gesagten Voraussetzung für den Widerruf der Asylanerkennung nach § 73 AsylVfG i.V.m. Art 1 C Ziff. 5 GFK ist. Insbesondere hinsichtlich der Verfolgung von kurdischen Volkszugehörigen, die in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten sind, kann eine politische Verfolgung im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden.

Unter diesen Voraussetzungen kann auch unter dem Gesichtspunkt sippenhaftähnlicher Maßnahmen eine politische Verfolgung in die Türkei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Zwar hat das erkennende Gericht in einem Asylerstverfahren entschieden, dass im Zuge des Reformprozesses in der Türkei eine sippenhaftähnliche Verfolgung grundsätzlich nicht mehr mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohe und in der Regel nur noch bei nahen Verwandten von Personen gegeben sei, die ihrerseits landesweit mit Haftbefehl gesucht werden oder an führender Stelle separatistische Organisationen unterstützen (Urteil vom 05.12.2005 - 5 A 293/05), und ist in dieser Auffassung durch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bestätigt worden (Beschluss vom 02.02.2006 - 11 LA 08/06 -). Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in einem Asylerstverfahren darüber hinausgehend festgestellt, sippenhaftähnliche Maßnahmen würden generell - auch nahen Angehörigen von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation - gegenwärtig nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A - juris). Nach dem im vorliegenden Widerrufsverfahren anzuwendenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist aber auch nach der zitierten Rechtsprechung eine Verfolgung jedenfalls nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen (so im Ergebnis auch: VG Ansbach, Urteil vom 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 -, juris).

Im Einzelfall besteht in der Türkei weiterhin die Gefahr von sippenhaftähnlichen Maßnahmen. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen führt in dem Urteil vom 19.04.2005 (aaO) wie auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in dem Urteil vom 18.07.2006 (Az. - 11 LB 264/05 -, Rechtsprechungsdatenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im Internet) aus, dass Übergriffe auf Familienangehörige nach wie vor stattfinden und schließt die Möglichkeit einer asylrelevanten Verfolgung unter dem Gesichtspunkt sippenhaftähnlicher Maßnahmen nicht generell aus. Beide Urteile nehmen auf den Hinweis von amnesty international Bezug (Länderkurz-Info Türkei vom 31.7.2005; vgl. insoweit auch das Gutachten der SFH vom 23.02.2006: Türkei - Rückkehr eines ehemaligen PKK-Aktivisten), dass vor allem Angehörige gesuchter PKK-Mitglieder starkem Druck ausgesetzt seien. Sie würden oft bedroht, aufgefordert, die betreffenden Verwandten herbeizuschaffen, oder verdächtigt, selbst die PKK zu unterstützen. Es komme aber auch zu Festnahmen und Folterungen.

Die konkreten Feststellungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsrechts in dem Urteil vom 05.06.2002 (aaO), dass die Klägerin damit rechnen müsse, unter dem Gesichtspunkt einer sippenhaftähnlichen Verfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei menschenrechtswidrigen Misshandlungen oder Folterungen ausgesetzt zu werden, weil ihr Ehemann von türkischen Sicherheitsbehörden als aktiver Unterstützer der PKK angesehen wird, sind daher nach Ansicht des Gerichts im angefochtenen Bescheid im Hinblick auf die aktuelle politische Entwicklung in der Türkei nicht mit hinreichender Sicherheit widerlegt. Zwar wird ihr Ehemann nicht durch Haftbefehl in der Türkei gesucht. Hierbei handelt es sich aber, wie das Niedersächsische Oberverwaltungsrechts in dem Urteil vom 05.06.2002 (aaO) ausgeführt hat, um eine zu formale Ansicht. Eine sippenhaftähnliche Gefährdung droht daher auch, wenn die türkischen Sicherheitskräfte ein besonderes Interesse an verdächtigen Angehörigen haben. Der Erlass eines Haftbefehls erscheint aufgrund des Aufenthalts des Ehemanns der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland nicht notwendig.