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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 19.10.2001 - 1 B 24.01 - asyl.net: M1243
https://www.asyl.net/rsdb/M1243
Leitsatz:

Das Gericht darf von der Aufklärung entscheidungserheblicher Umstände (vgl. § 86 Abs. 1 VwGO) nicht allein mit der Begründung absehen, es fehle an deren "Glaubhaftmachung", weil der Asylbewerber sie erst sehr spät in das Verfahren eingeführt habe.

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Revisionsverfahren, Nichtzulassungsbeschwerde, Verfahrensmangel, Sachaufklärungspflicht, Glaubhaftmachung, Beweismittel, Verspätetes Vorbringen, Präklusion, Mitwirkungspflichten, Rechtliches Gehör
Normen: VwGO § 86 Abs. 1; VwGO § 87 Abs. 3; VwGO § 128a; VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; AsylVfG § 74 Abs. 2
Auszüge:

Das Gericht darf von der Aufklärung entscheidungserheblicher Umstände (vgl. § 86 Abs. 1 VwGO) nicht allein mit der Begründung absehen, es fehle an deren "Glaubhaftmachung", weil der Asylbewerber sie erst sehr spät in das Verfahren eingeführt habe.

(Amtlicher Leitsatz)

Dem Gesamtvorbringen der Beschwerde ist im Kern und in erster Linie die Rüge zu entnehmen, das Berufungsgericht habe von der Aufklärung der Frage, ob S. T. ein Cousin des Klägers ist, nicht absehen dürfen. Dieser Vorwurf wird zu Recht erhoben.

Die Aufklärung dieser Frage durch geeignete Beweismittel (etwa durch Einholung eines Sachverständigengutachtens oder einer amtlichen Auskunft) musste sich dem Berufungsgericht aufdrängen, da es offenbar nicht ausgeschlossen hat, dass die von ihm angenommene hinreichende Sicherheit des Klägers vor politischer Verfolgung im Süden und Westen Sri Lankas entfallen würde, wenn das behauptete Verwandtschaftsverhältnis zu einem hochrangigen LTTE-Mitglied tatsächlich besteht.

Allerdings findet nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Pflicht der Gerichte zur Aufklärung des Sachverhalts ihre Grenze dort, wo das Klagevorbringen keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet (Urteil vom 22. März 1983 - BVerwG 9 C 68.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44). Ein solcher tatsächlicher Anlass besteht im Prozess wegen Anerkennung als Asylberechtigter dann nicht, wenn der Kläger unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflicht nach § 15 AsylVfG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO seine möglicherweise guten Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht in schlüssiger Form vorträgt, d.h. nicht unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildert, aus dem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass er bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu

seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (Urteil vom 22. März 1983 - BVerwG 9 C 68.81 - a.a.O.; Beschluss vom 26. Oktober 1989 - BVerwG 9 B 405.89 - InfAuslR 1990, 38).

Das Berufungsgericht lässt zwar die Pflicht des Asylbewerbers, einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, nicht unerwähnt. Es missversteht aber die oben dargelegten Grundsätze, wenn es im Ergebnis davon ausgeht, die Aufklärungspflicht des Gerichts entfalle auch dann, wenn es an der erforderlichen "Glaubhaftmachung" fehle, weil der Asylbewerber Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichne, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführe.

Dies ist auch nicht dem vom Berufungsgericht zitierten Urteil des früher für Asylrecht zuständigen 9. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Februar 1988 (- BVerwG 9 C 273.86 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 79) zu entnehmen. Die Beschwerde vertritt mithin zu Recht die Auffassung, der Umstand, dass der Kläger die hohe Stellung seines (angeblichen) Cousins bei der LTTE erst spät geltend gemacht hat, habe die Pflicht des Berufungsgerichts zur Aufklärung nicht entfallen lassen.

Vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine materielle Präklusion des Klägers (vgl. § 74 Abs. 2 AsylVfG, §§ 87 b, 128 a VwGO) geht auch das Berufungsgericht ersichtlich nicht aus; dann aber hätte es den Kläger auch nicht (praktisch als) wegen verspäteten Vortrags der Sache nach als präkludiert behandeln dürfen (vgl. Beschluss vom 17. Juni 1997 - BVerwG 9 B 239.97 - <juris>). Sollte eine Aufklärung auch nach Durchführung einer Beweisaufnahme nicht möglich sein, bleibt dem Berufungsgericht unbenommen, den späten Zeitpunkt des Vortrags zu würdigen und daraus Schlüsse auf die Glaubhaftigkeit des Vorbringens zu ziehen.

Der Beschwerde ist weiter darin zuzustimmen, dass das Berufungsgericht von einer Aufklärung des in Rede stehenden Verwandtschaftsverhältnisses nicht mit der Begründung absehen durfte, dem Kläger hätten andere Beweismittel zur Verfügung gestanden, die er nicht genutzt habe. Das Berufungsgericht meint, der Kläger hätte zum Beleg der Verwandtschaft mit S. T. "Unterlagen, z.B. Geburts- und Abstammungsurkunde" - wohl des (angeblichen) Cousins - beschaffen können, wie er dem im Januar 2000 in das Verfahren eingeführten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Januar 1990, S. 25 - 28 habe entnehmen können. Selbst wenn dies möglich gewesen sein sollte, hätte das Berufungsgericht den Kläger - unabhängig von den mit der Beschwerde angesprochenen Bedenken des Klägers im Hinblick auf eine eventuelle Beteiligung von Stellen des angeblichen Verfolgerstaats (vgl. auch Beschluss vom 9. Mai 1983 - BVerwG 9 B 10466.81 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 5) - schon zur Wahrung des rechtlichen Gehörs zumindest auf das Erfordernis derartiger eigener Nachforschungen hinweisen müssen. Die Annahme, die Einführung des erwähnten Lageberichts reiche insoweit aus, überspannt auf jeden Fall die Anforderungen an die Mitwirkungspflicht des Klägers. Im Übrigen trifft den Asylbewerber grundsätzlich keine Beweisführungspflicht (vgl. Urteil vom 29. Juni 1999 - BVerwG 9 C 36.98 - BVerwGE 109, 174).

Die weiteren Erwägungen, die das Berufungsgericht für die nach seiner Auffassung "fehlende Glaubhaftmachung" des Verwandtschaftsverhältnisses mit S. T. anführt, rechtfertigen die Unterlassung der Aufklärung ebenfalls nicht. Soweit das Berufungsgericht darlegt, die vom Kläger vorgetragene tamilische Namensgebung ergebe keinen zum behaupteten Verwandtschaftsverhältnis passenden Sinn, bleibt unklar, auf welche Erkenntnismittel es diese Beurteilung stützt. Nach den vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegten Gutachten von Dr. Wingler vom 1. Januar und 10. Februar 1995, auf die die Beschwerde hinweist, ist die Stellung des Vor- und Nachnamens kein eindeutiges Kriterium. Hiermit hätte sich das Berufungsgericht auseinander setzen müssen.

Das Berufungsgericht hält es schließlich für unwahrscheinlich, dass ein LTTE-Mitglied, das den Rang unmittelbar unter dem Führer der LTTE einnehme und deshalb zu den meistgesuchten Personen in Sri Lanka gehören dürfte, seine Verwandten in ihrem Wohnort besuche. Insoweit geht das Berufungsgericht, wie die Beschwerde zu Recht rügt, nicht darauf ein, dass der Heimatort des Klägers nach dessen Angaben geteilt war und zur Hälfte in dem von der LTTE gehaltenen Gebiet liegt. Es hätte der Erörterung bedurft, warum Besuche in dem von der LTTE gehaltenen Gebietsteil unwahrscheinlich sein sollen.