VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 25.01.2008 - VG 36 X 5.06 - asyl.net: M12546
https://www.asyl.net/rsdb/M12546
Leitsatz:

Keine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Dorfschützer, PKK, Verdacht der Unterstützung, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Situation bei Rückkehr, Festnahme, Misshandlungen, Folter, Reformen, Menschenrechtslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Dezember 2005 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG ist zu Unrecht erfolgt, die Voraussetzungen hierfür lagen nicht vor.

Einen den Widerruf rechtfertigenden Sachverhalt hat die insoweit beweisbelastete Beklagte weder dargetan noch ist ein solcher ersichtlich. Die Beklagte hat in dem angegriffenen Widerrufsbescheid zwar ausgeführt, die Sachlage habe sich grundlegend geändert, eine tragfähige Begründung einer solchen Sachverhaltsänderung bezogen auf den Fall des Klägers enthält der Bescheid jedoch nicht. Soweit der Bescheid ausführt, dem Kläger drohe keine landesweite Verfolgung wegen der Weigerung das Dorfschützeramt zu übernehmen, legt er keine Sachverhaltsänderung dar, sondern greift im Grunde die Feststellungen des VG Würzburg im Ausgangsverfahren an. Dies zeigt sich darin, dass das Bundesamt teilweise Materialien anführt, die bereits vor Erlass dieses Urteils vorlagen. Allerdings ist auch das VG Würzburg bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, dass dem Kläger allein wegen der Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, keine landesweite Verfolgung drohte. Es ging jedoch davon aus, dass in der spezifischen Situation des Klägers bei einer Rückkehr die konkrete Gefahr besteht, dass er bei den wegen der Fahndung anstehenden Verhören Misshandlungen unterzogen wird, weil man ihn verdächtigen würde, die PKK zu unterstützen. Zu dieser konkreten Gefahr äußert sich der angegriffene Bescheid jedoch nicht, sondern belässt es bei allgemeinen Ausführungen zur Verbesserung der politischen Lage in der Türkei.

Da der Kläger nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Würzburg in seinem Urteil vom 24. September 1999 vor seiner Ausreise aus der Türkei dort politischer Verfolgung ausgesetzt gewesen ist, setzt der Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung voraus, dass er heute dort vor einer erneuten Verfolgung sicher wäre. Dies ist jedoch nach Auffassung der Kammer nicht der Fall. Nach wie vor droht dem Kläger, nach dem laut Urteil des VG Würzburg früher gefahndet worden ist, bei einer Rückkehr eine Festnahme (wahrscheinlich weil er sich dem Wehrdienst entzogen hat), verbunden mit einer ausgiebigen Befragung. Dabei kann immer noch gegen ihn der Verdacht bestehen, dass er sich während seines langen Auslandsaufenthaltes für die PKK betätigt hat. Dies liegt im Fall des Klägers nahe, weil er bereits früher verdächtigt worden ist, die PKK zu unterstützen. Bei solchen Befragungen kommt es auch nach wie vor zu Misshandlungen, insbesondere wenn es neben den offiziellen Befragungen zu extralegalen Festnahmen kommt. Nach ihrer ständigen Rechtsprechung ist die Kammer der Auffassung, dass die Reformen in der Türkei noch nicht zu einer solch nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage geführt haben, dass früher von Verfolgung Bedrohte bei ihrer Rückkehr nur mit rechtsstaatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hätten (vgl. zur weiteren Begründung das (rechtskräftige) Urteil der Kammer vom 20. Juni 2007 im Verfahren VG 36 X 75/06). Nach den der Kammer vorliegenden Materialien, insbesondere dem Gutachten von Oberdiek vom Januar 2006 zur Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei, besteht insbesondere nach wie vor die Gefahr, dass Verurteilungen auf Grund von Aussagen zustande kommen, die unter Folter erlangt wurden. Außerdem besteht die Gefahr extralegaler Festnahmen und Misshandlungen durch die Sicherheitskräfte, von denen türkische Anwälte den Mitgliedern der Kammer anlässlich einer Informationsreise nach Istanbul Anfang September 2007 berichtet haben. Auch nach dem Fortschrittsbericht der Europäischen Union vom 6. November 2007 besteht noch die Gefahr von extralegalen Festnahmen und Misshandlungen sowie generell die Gefahr, gerade auf ländlichen Polizeistationen ohne die Möglichkeit anwaltlichen Beistandes oder ärztlicher Kontrolle festgenommen zu werden. In dem Bericht wird außerdem moniert, dass es der Justiz an tatsächlicher Unabhängigkeit fehlt, wie die Entlassung des Staatsanwalts zeige, der im Fall Semdinli ermittelt habe. Auch die Vielzahl von Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Zahl der Beschwerden bei Menschenrechtsorganisationen zeige, dass in diesem Bereich noch vieles im Argen liege. Im Berichtszeitraum habe der EGMR die Türkei in 330 Fällen wegen der Verletzung von Artikeln der Europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt. Die Zahl der neu eingegangenen Verfahren im Zeitraum 1. September 2006 bis 31. August 2007 sei höher als im selben Zeitraum des Vorjahres. Mehr als zwei Drittel der Verfahren beträfen die Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren und die Verletzung von Eigentumsrechten. In einer Anzahl von Fällen werde aber auch die Verletzung des Rechts auf Leben und Verstoß gegen das Folterverbot geltend gemacht. Eine bemerkenswerte Anzahl von Entscheidungen sei von der Türkei auch noch nicht umgesetzt worden. Bei den offiziellen Menschenrechtsausschüssen seien 2006 mehr Beschwerden eingegangen als im vorangegangenen Jahr. Der Abnahmetrend von Folterfällen halte an, jedoch werde nach wie vor von Fällen von Folter und Misshandlung berichtet, speziell in der Phase der polizeilichen Ermittlungen oder außerhalb von Polizeistationen. Zwar sei die Verwendung von Aussagen, die in Abwesenheit eines Rechtsbeistandes zustande gekommen sind, und nicht vor einem Richter bestätigt wurden (d.h. bei denen häufig Misshandlung im Spiel war), nach der Strafprozessordnung verboten, jedoch habe der Kassationsgerichtshof entschieden, dass diese Vorschrift nicht auf zurückliegende Fälle Anwendung findet. So hätten in einigen Fällen niedrigere Instanzen sich auf solche Beweismittel gestützt, bei denen der Angeklagte geltend gemacht hatte, er sei bei ihrer Erlangung misshandelt worden. Der Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen bleibe ein problematischer Bereich. Es fehle an schnellen und unabhängigen Untersuchungen von Verletzungen der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte. Im Gegenteil würden solche Verfahren eher verschleppt, die Täter blieben daher straflos. Trotz des rechtlichen Rahmens, der Folter und Misshandlung verbiete, ereigneten sich solche Fälle, ohne wirksam bekämpft zu werden. Der Zugang zu Anwälten nach der Festnahme sei zwar in den Städten weitgehend gewährleistet, nicht aber in ländlichen Gebieten, vor allem nicht im Südosten des Landes. In den Gefängnissen gebe es einige Probleme wie Überfüllung und unzureichende Gesundheitsversorgung. Vor allem öffneten sich die zivilen und militärischen Gefängnisse (wie auch sonstige Einrichtungen, in denen Menschen festgehalten würden) nicht unabhängigen Beobachtern, die überprüfen könnten, ob das Folterverbot eingehalten wird (wie es im optionalen Protokoll der Konvention gegen die Folter gefordert wird). Die Anklagen und Verurteilungen wegen gewaltloser Meinungsäußerungen seien ferner ein Objekt ernsthafter Besorgnis. Die Zahl der deswegen angeklagten Personen habe sich 2006 im Vergleich zu 2005 verdoppelt und sei im Jahre 2007 weiter angestiegen. Die restriktive Rechtsprechung des Kassationshofes und die andauernden Verfolgungen hätten zu einem Klima der Selbstzensur geführt. Die Haltung der Türkei zu Minderheiten-Rechten sei unverändert. Nur die im Vertrag von Lausanne von 1923 aufgeführten Minderheiten (Juden, Armenier, Griechen) würden als solche anerkannt. Die Türkei müsse aber Sprache, Kultur, Religion, Versammlungsfreiheit und andere Rechte für alle Minderheiten anerkennen. Auf diesem Gebiet habe die Türkei keine Fortschritte gemacht. Vor diesem Hintergrund ist auch der Kläger vor einer erneuten Verfolgung derzeit noch nicht hinreichend sicher.