Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsheirat in der Türkei; kein effektiver staatlicher Schutz vor Übergriffen durch Familienangehörige.
Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsheirat in der Türkei; kein effektiver staatlicher Schutz vor Übergriffen durch Familienangehörige.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte. In ihrer Person liegen jedoch die Voraussetzung für ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 1 AufenthG vor.
Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen hat die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass ihr im Falle einer Rückkehr in die Türkei geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1, 3, 4 Buchst. c AufenthG droht, die von ihrer Familie - insbesondere den Eltern und dem Bruder - ausgeht und durch die zumindest ihre körperliche Unversehrtheit und Freiheit aktuell bedroht wird.
Das Gericht geht danach davon aus, dass die Klägerin in der Türkei von ihrem Vater und Bruder massiv unter Druck gesetzt wurde, um ihren ... schwerbehinderten Schwager zu heiraten. Nach der bereits zuvor erfolgten Zwangsverheiratung musste die Klägerin auch davon ausgehen, dass ihre Eltern und Schwiegereltern diese Ehe durchsetzen würden. Auf ihre Weigerung reagierten insbesondere ihr Vater und Bruder mit massivem Druck und wurden bereits gewalttätig gegenüber der Klägerin. Dass in der Türkei Zwangsverheiratungen und bei einer Weigerung der Frau auch sogenannte "Ehrenmorde" durchaus vorkommen, bestätigt auch der letzte Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.10.2007 (Blatt 23 ff.).
Die Klägerin vermochte in der mündlichen Verhandlung auch glaubhaft darzulegen, weshalb sie bei ihrer ersten Anhörung vor dem Bundesamt nichts von der bevorstehenden Zwangsehe berichtet hatte, sondern vorgetragen hatte, wegen der Ablehnung der Übernahme des Dorfschützeramtes verfolgt worden zu sein. Die Klägerin führte hierzu aus, ... habe ihr gesagt, was sie bei ihrer Anhörung erzählen solle. Sie habe sehr große Angst gehabt, da ... sie sehr unter Druck gesetzt habe. Weiter habe er ihr erzählt, dass man sie sofort wieder in die Türkei schicken werde, wenn sie von der Zwangsehe berichten würde. Diese Erklärung ist für das Gericht plausibel und nachvollziehbar und erklärt, weshalb sie erst im gerichtlichen Verfahren von der Zwangsehe berichtete. Der Vortrag der Klägerin hierzu war ebenfalls lebensnah, detailreich und damit insgesamt glaubhaft.
Die von der Klägerin glaubhaft gemachte Gefahr der ihr drohenden Zwangsverheiratung in der Türkei erfüllt den Tatbestand einer allein an ihr Geschlecht anknüpfenden Bedrohung ihrer körperlichen Unversehrtheit und Freiheit (vgl.: VG Stuttgart, Urt. v. 29.1.2007 - A 4 K 1877/06 -; VG München, Urt. v. 20.06.2007 - M 24 K 07.50265 -; jeweils zitiert nach juris). Die geschlechtsspezifische Verfolgung ist im Rahmen von § 60 Abs. 1 AufenthG als Untergruppe des Verfolgungsgrundes "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" anerkannt (vgl. z. B. VG Freiburg, Urt. v. 20.4.2005 - A 5 K 10956/03 - und VG Hamburg, Urt. v. 7.11.2005 - 4 A 1970/03 -; jeweils zitiert nach juris). Die Klägerin gehört der Gruppe der jungen Frauen aus Familien an, deren traditionelles Selbstverständnis und archaisch-patriarchalische Vorstellungen es gebieten, für sie einen Ehemann auszusuchen und sie auch gegen ihren Willen mit ihm zu verheiraten, ohne dass der Frau bei der Auswahl des Ehegatten ein Mitspracherecht zukommt. Da für die Klägerin infolge der zwangsweisen Verheiratung eine individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt wäre, liegt eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung i.S.v. Art. 9 Abs. 1 QRL vor.
Die Klägerin ist von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG bedroht, worunter auch private Personen - hier die Familienmitglieder, insbesondere Vater und Bruder der Klägerin - zu zählen sind. Effektiven Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. C AufenthG vermag der türkische Staat hiergegen nicht zu gewähren. Das VG München (a.a.O.) hat hierzu in einem vergleichbaren Verfahren ausgeführt:
"Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass die Türkei - schon im Zusammenhang mit dem erstrebten Beitritt zur Europäischen Union - ihre Gesetze entsprechend europäischen Vorstellungen, insbesondere von der Gleichberechtigung der Frau angepasst hat. Damit erweist sie sich zwar als willens, Schutz vor der hier beachtlichen Verfolgung zu bieten, allein sie ist dazu in der sozialen Realität zumindest derzeit noch nicht in der Lage."
Dieser Auffassung schließt sich das erkennende Gericht an.
Schließlich besteht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4, letzter Halbsatz AufenthG). Eine solche liegt gem. Art. 8 Abs. 1 QRL vor, wenn für den Ausländer in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält. Gem. Art. 8 Abs. 2 QRL sind bei der Prüfung dieser Frage die dortigen allgemeinen Gegebenheiten sowie die persönlichen Umstände des Ausländers zum Zeitpunkt der Entscheidung zu berücksichtigen.
Nach diesen Maßstäben steht der Klägerin keine innerstaatliche Fluchalternative zur Verfügung. Sie kann sich der ihr drohenden Verfolgung durch Umsiedlung in eine westtürkische Großstadt unter Abtauchen in die Anonymität nicht entziehen. Sie hat dort insbesondere keine Verwandten, unter deren Schutz sie sich stellen könnte und die in der Lage wären, sie aufzunehmen und zumindest für eine Übergangszeit zu versorgen. Im Übrigen wäre auch bei einem der Familie bekannten Aufenthaltsort in der Türkei ihre Sicherheit latent gefährdet. Ein "Untertauchen" in einer Großstadt wie etwa Istanbul würde ihr zwar Verfolgungssicherheit bieten, es ist jedoch nicht erkennbar, wie sie ohne Hilfe von Freunden oder Verwandten ihr tägliches Überleben - noch dazu unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sie ein nichteheliches 1 1/2-jähriges Kind hat, welches sie natürlich mitnehmen würde - gestalten könnte. Als junge Frau ohne Schul- oder Berufsabschluss könnte sie sich allenfalls durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, wäre jedoch der Gefahr ausgesetzt, in Kriminalität und Prostitution abzurutschen. Angesichts dessen kann von der Klägerin vernünftigerweise nicht erwartet werden, internen Schutz in der Türkei zu suchen. Eine auf Dauer gesicherte menschenwürdige Existenz wäre dort nicht möglich.