VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 11.02.2008 - VG 15 A 415.07 - asyl.net: M12591
https://www.asyl.net/rsdb/M12591
Leitsatz:

Der Ausschluss von Familienangehörigen von der Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 3 S. 1 i. V. m. Abs. 1 S. 1 Nr. 6 AufenthG ist verfassungsgemäß; die Härtefallregelung des § 104 a Abs. 3 S. 2 AufenthG gilt über den Wortlaut hinaus nicht nur für den Ehegatten sondern auch für sonstige Angehörige des straffällig gewordenen Ausländers; eine besondere Härte i.S.d. § 104 a Abs. 3 S. 2 AufenthG liegt insbesondere bei "faktischen Inländern" und ihren Eltern vor.

 

Schlagwörter: D (A), Duldung, Altfallregelung, Aufenthaltserlaubnis, Straftaten, Familienangehörige, Verfassungsmäßigkeit, besondere Härte, Kinder, Minderjährige, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Integration, Aufenthaltsdauer, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Schutz von Ehe und Familie, Roma, Serbien, Sprachkenntnisse, Ermessensduldung, dringende persönliche Gründe, vorübergehender Aufenthalt, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6; AufenthG § 104a Abs. 3; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; AufenthG § 60a Abs. 2 S. 3; VwGO § 123
Auszüge:

Der Ausschluss von Familienangehörigen von der Altfallregelung gem. § 104 a Abs. 3 S. 1 i. V. m. Abs. 1 S. 1 Nr. 6 AufenthG ist verfassungsgemäß; die Härtefallregelung des § 104 a Abs. 3 S. 2 AufenthG gilt über den Wortlaut hinaus nicht nur für den Ehegatten sondern auch für sonstige Angehörige des straffällig gewordenen Ausländers; eine besondere Härte i.S.d. § 104 a Abs. 3 S. 2 AufenthG liegt insbesondere bei "faktischen Inländern" und ihren Eltern vor.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO hat im tenorierten Umfang Erfolg.

Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch auf Erteilung von vorläufigen Duldungen mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache notwendigen überwiegenden Wahrscheinlichkeit im Sinne von §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 ZPO, 60 a Abs. 2 AufenthG glaubhaft gemacht.

Ihnen stehen bereits Duldungsansprüche gemäß § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu. Ihre Abschiebung ist unverhältnismäßig und deshalb aus rechtlichen Gründen unmöglich.

Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerinnen zu 2 bis 6 (im Folgenden: Antragstellerinnen) einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 2 AufenthG haben, der durch ihre Abschiebung unwiderruflich verloren ginge.

Die Antragstellerinnen erfüllen - wovon auch beide Verfahrensbeteiligten bisher ausgehen - für sich genommen die in § 104 a Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 AufenthG genannten Voraussetzungen. Sie sind nur deshalb gemäß § 104 a Abs. 3 Satz 1 i.V. mit Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG von der Anwendung der Altfallregelung ausgeschlossen, weil der mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebende Antragsteller zu 1 wegen der im Bundesgebiet begangenen Straftaten zu einer Geldstrafe i.H. von insgesamt 80 Tagessätzen verurteilt worden ist.

Dass dies (zunächst) gemäß § 104 a Abs. 3 Satz 1 AufenthG zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis für alle Familienmitglieder führt, dürfte verfassungsrechtlich wohl unbedenklich sein. Der Gesetzgeber wollte und durfte mit der Norm nur den darin begrenzten Personenkreis begünstigen. Der sachliche gerechtfertigte Grund für die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Altfallregelung ist, dass nur diejenigen begünstigt werden sollen, die sich im Wesentlichen rechtstreu verhalten haben (vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/5065, S. 201 ff., 202). Verfassungsrechtlich ist ferner zu beachten, dass aus der Regelung entstehende besondere Härten durch § 104 a Abs. 3 Satz 2 AufenthG (ggf. in entsprechender Anwendung) abgewendet werden können.

Den Antragstellerinnen kann nämlich eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104 a Abs. 1 Satz 1 i.V. mit Abs. 3 Satz 2 AufenthG erteilt werden. Danach kann dem Ehegatten auch bei Straftaten eines Familienmitglieds eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden, wenn er die Voraussetzungen hierfür im Übrigen erfüllt und es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, ihm den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen. Diese Regelung ist ihrem Wortlaut nach nur auf den Ehegatten anwendbar. Sie muss nach Auffassung der Kammer aber entsprechend auch auf die im gleichen Haushalt lebenden ehelichen minderjährigen Kinder angewendet werden. Die gesetzliche Regelungen enthält sonst für diejenigen minderjährigen Kinder eine nicht gerechtfertigte Lücke, deren Eltern oder deren allein personensorgeberechtigtes Elternteil nicht aus der Bundesrepublik ausgereist ist (vgl. §§ 104 b und 104 a Abs. 2 AufenthG). Diesen Kindern kann deshalb zur Abwendung einer besonderen Härte unter entsprechender Anwendung des § 104 a Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Davon geht dem Grundsatz nach auch der Antragsgegner aus. Er wendet die die genannte Vorschrift "auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung ebenso für die minderjährigen ledigen Kinder" an, soweit die anderen Erteilungsvoraussetzungen vorliegen (siehe den aktuellen Weisungsordner, VAB A.104 a.3.2).

Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist es vorliegend auch zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich, den Antragstellerinnen Aufenthaltserlaubnisse nach § 104 a Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu erteilen. Es spricht Überwiegendes dafür, dass das in der Norm vorgesehene Ermessen eröffnet und zu Gunsten der Antragstellerinnen auf die Erteilung der Erlaubnisse reduziert ist. Es liegt eine besondere Härte vor, weil eine Beendigung ihres Aufenthaltes die Antragstellerinnen wesentlich schwerer als andere Ausländer treffen würde, die sich bereits lange in Deutschland aufgehalten haben. Grund hierfür ist, dass die Antragstellerinnen in einer gefestigten familiären Gemeinschaft zusammenleben, deren Auflösung der Antragstellerin zu 2 nicht zumutbar ist und die nur im Bundesgebiet gelebt werden kann. Aufgrund der Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG ist es der Antragstellerin zu 2 nicht zumutbar, ohne ihre Kinder auszureisen. Die Antragstellerinnen zu 3 bis 6 sind aufgrund ihres Alters (siebzehn, zehn, acht und sechs Jahre) auf die Betreuung durch ihre Mutter angewiesen. Die familiäre Gemeinschaft kann - anders als in anderen Fällen - auch nicht im Ausland fortgeführt werden. Denn die Antragstellerinnen zu 3 bis 6 dürften als sog. faktische Inländerinnen i.S. des Art. 8 Abs. 1 EMRK anzusehen sein, die sich auf die Achtung ihres Privat- und Familienlebens berufen können und denen ein Verlassen der Bundesrepublik nicht mehr zumutbar ist. Eine den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik als Aufenthaltsstaat kommt insbesondere für Ausländer in Betracht, die auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie quasi deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Bundesrepublik faktisch das Land ist, zu dem sie gehören, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (vgl. EGMR, Urteil vom 16.6.2005, lnfAuslR 2005, 349, Urteil vom 26.3.1992 , InfAuslR 1994, 86 ff., und Urteil vom 26.9.1997, InfAuslR 1997, 430).

Die Antragstellerinnen zu 3 bis 6 erfüllen bei summarischer Prüfung diese Voraussetzungen. Sie sind hier sozial integriert und kulturell geprägt worden. Sie haben den Großteil ihres bisherigen Lebens bzw. ihr gesamtes Leben in Bundesrepublik verbracht. Den vorgelegten Bescheinigungen nach sprechen auch sie Deutsch. Diese vier Antragstellerinnen haben nur eine formale Verbindung zu Serbien. Sie sind zwar Staatsangehörige dieses Staates, haben aber keine faktische Bindung zu diesem Land. Die Antragstellerinnen zu 3 bis 6 sprechen nicht Serbisch und könnten sich schon deshalb nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten in Serbien eingliedern. Die Antragsteller zu 1 und 2 haben nachvollziehbar geschildert, dass sie zu Hause die "Roma-Sprache" (Romani, auch Romanes genannt) mit ihren Kindern sprechen. Ihre Kinder sprechen Romani und daneben Deutsch, verstehen aber kein Serbisch. Dies hat auch die Antragstellerin zu 3 glaubhaft bestätigt. Dass Angehörige der Volksgruppe der Roma in Serbien oftmals die Sprache nicht beherrschen, steht auch im Einklang mit den zur Situation der Roma in Serbien und Montenegro erstellten Berichten (vgl. bspw. den Bericht des UNHCR vom September 2004,www.unhcr.de/uploads/media/463.pdf?PHPSESSID=794d2653d60d4374093d95b625c440). Eine Abschiebung der Antragstellerinnen zu 3 bis 6 nach Serbien käme somit einer Abschiebung in ein für sie fremdes Land gleich, in dem sie sich nicht verständigen könnten und zunächst die Landessprache lernen müssten. Dies stünde dort dem Finden einer Arbeitsstelle oder dem weiteren Schulbesuch bis auf weiteres entgegen.

Dem Antragsteller zu 1 ist schließlich gemäß Art. 6 Abs. 1 GG i.V. mit § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine Duldung zu erteilen. Seine Abschiebung ist derzeit wegen der bestehenden familiären Lebensgemeinschaft mit den übrigen Antragstellerinnen rechtlich unmöglich. Die Abschiebung des Antragstellers würde sein Recht und das Recht der Antragstellerinnen auf den Schutz des Familienlebens in unverhältnismäßiger Weise verletzen. Die Familie lebt in einem gemeinsamen Haushalt zusammen. Der Antragsteller betreut die drei kleineren Kinder, bringt sie bspw. zur Schule, holt sie ab und hilft ihnen bei den Hausaufgaben.