VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 08.02.2008 - M 11 K 07.50824 - asyl.net: M12593
https://www.asyl.net/rsdb/M12593
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Gruppenverfolgung, Sunniten, Schiiten, Kurden, religiös motivierte Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungsdichte, Schutzfähigkeit, Nordirak, interne Fluchtalternative
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Erkenntnismittel, die Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens sind, sowie allgemein zugängliche Medienberichte belegen, dass dem Kläger - wie anderen Irakern gleicher Volks- und Glaubenszugehörigkeit auch - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure im oben genannten Sinne droht, die im Wesentlichen an seine Religion und Rasse (dieser Begriff umfasst auch die Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004, ABl. EU Nr. L 304 S.12) anknüpft. Weder der irakische Staat noch Parteien oder Organisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a) und b) AufenthG noch internationale Organisationen sind erwiesenermaßen in der Lage oder willens, gegen diese Verfolgung Schutz zu bieten. Für den Kläger gibt es keine innerstaatliche Fluchtalternative.

Die Lage im Irak ist durch ungezählte terroristische Anschläge, bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und offene Kampfhandlungen gekennzeichnet.

Der aktuelle Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 19. Oktober 2007 - Lagebericht - führt im Einzelnen aus, dass nach Angaben der Vereinten Nationen im Laufe des Jahres 2006 etwa 70.000 Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben oder verwundet wurden. Im ersten Halbjahr des Jahres 2007 kamen monatlich wiederum Tausende von Zivilisten bei Feuergefechten, Bombenanschlägen, Selbstmordattentaten oder gezielten Morden ums Leben (Lagebericht S. 4). Es herrscht ein durchgängiges Klima der Gewalt. Fast täglich werden landesweit Leichen auf Straßen oder unbebauten Grundstücken gefunden. Regelmäßig berichten Beobachter vom gewaltsamen Tod der Opfer sowie von Folterspuren (Lagebericht S. 25). Die Zahl sicherheitsrelevanter Vorfälle stieg seit dem Kriegsende 2003 kontinuierlich an. Sie liegt seit Ende 2006 bei durchschnittlich etwa 200 pro Tag (Lagebericht S. 4). Schätzungen zufolge befinden sich derzeit etwa 4,2 Mio. Iraker auf der Flucht, davon etwa die Hälfte als Binnenflüchtlinge innerhalb des Irak.

Ursache der verheerenden Sicherheitslage im Irak sind mehrere sich überlagernde und ineinander greifende Konflikte (Lagebericht S. 4): der Kampf der irakischen Regierung und der multinationalen Streitkräfte gegen Aufständische, Milizenkämpfe, Terroranschläge zumeist sunnitischer Islamisten sowie in zunehmendem Maße konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen gerade auch zwischen den großen Bevölkerungsgruppen des Landes (arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden). Die Zahl der Opfer religiös und ethnisch motivierter Gewalt stieg dabei nach dem Anschlag auf die schiitische Askariya-Moschee in Samarra am 22. Februar 2006 landesweit an (Lagebericht S. 14). In Reaktion auf diesen Anschlag sollen bis zu 100 sunnitische Moscheen beschädigt worden sein. Auch die Anschlagsserie im schiitischen Armenviertel Bagdads, Sadr-City, am 23. November 2006 und das Attentat beim schiitischen Aschura-Fest im Januar 2007 verstärkten die Tendenz interkonfessioneller Auseinandersetzungen, die ein bisher nicht gekanntes Ausmaß an Gewalt erreicht haben (Lagebericht S. 4). Al-Qaida verfolgt im Irak die Strategie, mit gezielten Anschlägen auf die schiitische Bevölkerungsmehrheit ein Abgleiten des Landes in einen voll entwickelten Bürgerkrieg zu provozieren (Lagebericht S. 10). Die Organisation setzt vorwiegend auf extrem brutale terroristische Anschläge (Autobomben, Selbstmordattentate, Entführungen, gezielte Ermordungen, auch Enthauptungen). Diese Strategie, radikale und militante Gruppierungen zu wechselseitigen Verfolgungshandlungen gegenüber der Zivilbevölkerung zu motivieren, ist erfolgreich. Konfessionell motivierte Verbrechen wie Ermordungen, Folter und Entführungen von Angehörigen der jeweils anderen Glaubensrichtung (z.B. sog. "Pass-Morde") ereignen sich landesweit (Lagebericht S. 14, 21).

Schwerpunkte gewalttätiger Anschläge sind Bagdad und der Zentralirak. Auch im Nordirak und Südirak kommt es mittlerweile vermehrt zu Anschlägen mit schwersten Folgen. In den unter autonomer kurdischer Verwaltung stehenden Gebieten des Nordirak ist zwar die Wahrscheinlichkeit, durch einen Anschlag getötet zu werden, statistisch geringer als in Bagdad und im Zentralirak. Anschläge finden aber auch in dieser Region statt (Lagebericht S. 14). In den außerhalb der kurdischen Autonomiezone liegenden Gebieten des Nordirak steigt die Zahl der Anschläge und der Todesopfer ebenfalls. Dort haben sich auch die Spannungen zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen erheblich verschärft, so dass es immer wieder zu ethnisch motivierten Übergriffen und Anschlägen kommt (Lagebericht S. 14, 15, 21). Der schiitisch dominierte Südirak weist zwar ebenfalls eine geringere Anschlagsdichte auf als der Zentralirak. Anschläge ereignen sich jedoch auch dort regelmäßig, wobei sich die Sicherheitslage seit dem zweiten Halbjahr 2005 kontinuierlich verschlechtert hat (Lagebericht S. 15). Der UNHCR vertritt die Auffassung, dass keine irakische Region als innerstaatliche Fluchtalternative angesehen werden kann (Lagebericht S. 23).

Der irakische Staat ist nach wie vor nicht in der Lage, seine Bürger vor der Gefahr, wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder Religion Opfer einer Gewalttat zu werden, zu schützen (Lagebericht S. 5, 20, 24). Die Einsetzbarkeit weiter Teile der irakischen Streit- und Polizeikräfte ist infolge kurzer Ausbildung, ungenügender Ausstattung und Korruption sehr begrenzt (Lagebericht S. 11). Verübte Gewalttaten bleiben daher zumeist straflos. Besonders problematisch ist die starke Unterwanderung der Polizei durch Aufständische und Milizen (Lagebericht S. 12). Im Zentralirak soll es sunnitischen Aufständischen immer wieder gelingen, sicherheitsrelevante Informationen aus den Reihen der Polizei zu erhalten, welche die Anschlagplanung sowie die Bestimmung von Fluchtwegen nach erfolgten Anschlägen erleichtern. Im Südirak sollen Berichten zufolge schiitische Milizen zumindest in Teilen die Sicherheitskräfte kontrollieren. Polizeibeamte sollen in vielen Fällen unmittelbar an der Planung und Durchführung von Terroranschlägen, Entführungen und gezielten Morden beteiligt sein (Lagebericht S. 12). Die irakische Regierung hat die Existenz sogenannter "Todesschwadronen" zugegeben (Lagebericht S. 5, 26). Der Einfluss der in sich zerrissenen Regierung auf die tatsächliche Entwicklung im Land ist zudem äußerst gering; die Regierung ist nur ein Machtfaktor unter vielen (Lagebericht S. 9).

Parteien oder Organisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. b) AufenthG oder internationalen Organisationen ist es ebenfalls nicht möglich, Schutz zu bieten. Wiederholt wird berichtet, dass vermutlich mehrere tausend Iraker in inoffiziellen Gefängnissen von Milizen und Parteien festgehalten werden, in denen die Lage noch schlechter sein soll als in den offiziellen Gefängnissen (Lagebericht S. 5). Mitarbeiter von Menschenrechtsorganisationen sind häufig selbst unmittelbares Ziel von Terroranschlägen (Lagebericht S. 11).

Eine inländische Fluchtalternative gibt es für den Kläger wegen der landesweit drohenden Gewalttaten nicht und zwar unabhängig davon, ob er tatsächlich - wie der Kläger behauptet - arabischer oder - wie der Beklagtenvertreter annimmt - kurdischer Volkszugehörigkeit ist. Im Hinblick auf die derzeit angespannte Sicherheitslage auch in den unter kurdischer Autonomie stehenden Teilen des Nordirak (Lagebericht S. 11, 24) ist dem Kläger auch bei kurdischer Volkszugehörigkeit ein Ausweichen dorthin nicht möglich.