VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 21.01.2008 - A 11 K 552/07 - asyl.net: M12612
https://www.asyl.net/rsdb/M12612
Leitsatz:

Nur die glaubhafte Zuwendung zum christlichen Glauben, nicht dagegen der rein formale Übertritt führt im Iran zu einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit; Gefahr der Festnahme und Verurteilung unter konstruierten Vorwürfen; die Taufe von Konvertiten wird in iranischen Taufregistern nicht verzeichnet.

 

Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, Rechtsschutzbedürfnis, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungshindernis, Christen, Pfingstgemeinden, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Änderung der Rechtslage, Konversion, Apostasie, Glaubwürdigkeit, Beweislast, Taufregister, Ahmadinedschad, Festnahme, Inhaftierung, begründete Furcht, Folter
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; VwGO § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Nur die glaubhafte Zuwendung zum christlichen Glauben, nicht dagegen der rein formale Übertritt führt im Iran zu einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit; Gefahr der Festnahme und Verurteilung unter konstruierten Vorwürfen; die Taufe von Konvertiten wird in iranischen Taufregistern nicht verzeichnet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig. Dem Kläger fehlt für die vorliegende Verpflichtungsklage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Zwar hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 03.07.2006 festgestellt, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich des Iran vorliegt. Im vorliegenden Fall begehrt der Kläger jedoch nicht die Feststellung eines weiteren Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2, 3 oder 5 AufenthG. Die von ihm begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG führt auch zu einem Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 2 AufenthG; der hierauf gerichteten Klage fehlt somit nicht das Rechtsschutzbedürfnis.

Die Klage ist auch begründet.

Zwar hat der Kläger innerhalb der Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG auf die Änderung der Rechtslage nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie zum 10.10.2006 hingewiesen. Dem Asylfolgeantrag vom 29.12.2006 fehlt jedoch jegliche substantiierte Darlegung, dass die neue Rechtslage zu einer günstigeren Entscheidung geeignet ist.

Gleichwohl hat das Bundesamt ausweislich des Inhalts des angefochtenen Bescheids die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft anhand der neuen Rechtslage sachlich geprüft und nach dem Inhalt des Bescheids eine negative Entscheidung in der Sache selbst getroffen. Damit hat es trotz Unbeachtlichkeit des Asylfolgeantrags den Weg zu einer Sachprüfung des Klagebegehrens auch im gerichtlichen Verfahren erneut frei gemacht (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.1987, BVerwGE 78, 332 = NVwZ 1988, 737 = DVBl. 1988, 637).

Vor dem Hintergrund der geltend gemachten geänderten Rechtslage hat der Kläger Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG.

Das Vorliegen/Nichtvorliegen einer Verfolgungshandlung ist somit anhand der Kriterien des Art. 9 Abs. 1 und Abs. 2 RL zu prüfen. Ob ein Verfolgungsgrund zu bejahen ist, ist in einem eigenen Prüfungsschritt zu ermitteln und beurteilt sich nach den Vorgaben des Art. 10 RL.

Im vorliegenden Zusammenhang ist Art. 10 Abs. 1 b RL maßgebend. Hiernach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dabei sind unter religiösen Riten die in einer Religionsgemeinschaft üblichen oder geregelten Praktiken oder Rituale zu verstehen, die der religiösen Lebensführung dienen, insbesondere Gottesdienste, kulturelle Handlungen und religiöse Feste (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.11.2007 - A 10 S 70/06 - Juris -; OVG Saarland, Urt. v. 26.06.2007 - 1 A 222/07 - Juris - = Asylmagazin 9/2007, 21). Artikel 10 Abs. 1 b RL umfasst somit nicht nur das offene, nicht nur an die Mitglieder der eigenen Religionsgemeinschaft gewandte Bekenntnis der persönlichen religiösen Überzeugung, sondern auch die Darstellung ihrer Verheißungen und damit auch missionarische Betätigung (vgl. VGH München, Urt. v. 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - Juris -). Der Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 b RL richtet sich gegen staatliche Einschränkungen der Religionsfreiheit, so dass er nicht danach bestimmt werden darf, was einzelne Staaten nach ihrer bisherigen Praxis an religiösen Freiheiten und damit an religiösem Selbstverständnis religiöser Minderheiten zugelassen haben (vgl. OVG Saarland, Urt. v. 26.06.2007 a.a.O.). Die religiöse Betätigung Einzelner oder der Gemeinschaft darf allerdings verboten oder reglementiert werden, wenn diese in einer erheblich den öffentlichen Frieden störenden Weise in die Lebenssphäre anderer Bürger eingreift oder mit dem Grundbestand des ordre public nicht vereinbar ist (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.11.2007 a.a.O.; VGH München, Urt. v. 23.10.2007 a.a.O.). Die Garantien des Art. 10 Abs. 1 b RL gelten für Konvertiten, die ihren Glauben aus religiöser Überzeugung gewechselt haben, in gleichem Umfang wie für Gläubige, die ihre durch Geburt erworbene Religion beibehalten. Aufgrund des weitgehenden Schutzbereichs des Art. 10 Abs. 1 b RL kann den Mitgliedern der jeweiligen Religionsgemeinschaft auch nicht angesonnen werden, öffentliche Glaubensbetätigungen bzw, Praktiken, die nach dem Verständnis der jeweiligen Religion bzw. Weltanschauung, aber auch nach dem des einzelnen Flüchtlings von grundlegender Bedeutung sind, zu unterlassen, um keine entsprechend vorgesehenen Sanktionen herauszufordern (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20,11.2007 - A 10 S 70/06 - Juris -).

Aus der Notwendigkeit der gerichtlichen Überzeugungsbildung über eine geltend gemachte religiöse Verfolgungsgefährdung ist jedenfalls im Falle einer Konversion eine Prüfung der inneren, religiös-persönlichkeitsprägenden Beweggründe für einen vorgenommenen Glaubenswechsel erforderlich. Nur wenn verlässlich festgestellt werden kann, dass die Konversion auf einer glaubhaften Zuwendung zum christlichen Glauben im Sinne einer ernsthaften Gewissensentscheidung, auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht, kann davon ausgegangen werden, dass ein Verschweigen, Verleugnen oder die Aufgabe der neuen Glaubenszugehörigkeit zur Vermeidung staatlicher oder nichtstaatlicher Repressionen im Heimatland den Betroffenen grundsätzlich und in aller Regel unter Verletzung seiner Menschenwürde existentiell und in seiner sittlichen Person treffen würde und ihm deshalb nicht zugemutet werden kann (vgl. Kassel, Urt. v. 26.07.2007 - 8 UE 3140/05.A - Juris - m.w.N.; OVG Saarland, Urt. v . 26.06.2007 a.a.O.). Nur bei einem in diesem Sinne ernsthaften Glaubenswechsel kann das Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass der schutzsuchende Ausländer bei einer Rückkehr in sein islamisches Heimatland von seiner neuen Glaubensüberzeugung nicht ablassen könnte (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 26.06.2007 - 8 UZ 1463/06.A). Eine solche Prüfung der Beweggründe ist nur dann entbehrlich, wenn der in Deutschland formal vollzogene Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben allein für sich im islamischen Heimatland des schutzsuchenden Ausländers mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit selbst dann zu erheblichen Verfolgungsmaßnahmen führen würde, wenn er dort seine christliche Glaubenszugehörigkeit verheimlichen, verleugnen oder aufgeben würde; dies würde wiederum voraussetzen, dass die allein in Deutschland stattgefundenen Geschehnisse den staatlichen Stellen oder maßgeblichen Gruppen im Heimatland des Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bekannt werden (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 26.07.2007 a.a.O.).

Nach diesen Grundsätzen führt der bloß formal vollzogene Übertritt vom islamischen zum christlichen Glauben nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Verfolgungsmaßnahmen im Falle einer Rückkehr in den Iran. Dies folgt schon daraus, dass ein Übertritt eines Iraners zum christlichen Glauben von iranischen Stellen als undenkbar an-gesehen und als im Zusammenhang mit der Aufenthaltsproblematik stehend beurteilt wird. Die Konversion eines Moslems zum Christentum stellt nach den Maßstäben der islamischen Religion einen absoluten Tabubruch dar, der jenseits des Vorstellbaren liegt. Es wird daher davon ausgegangen, dass der Konvertierte es mit dem Übertritt nicht ernst gemeint habe und dieser allein der Förderung des Asylverfahrens dienen sollte (vgl. Deutsches Orient-Institut, Stellungnahmen vom 22.11.2004 an VGH München, vom 06.12.2004 an OVG Bautzen und vom 09.05.2001 an VG Regensburg; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 12.04.2007 an BAMF).

Es bedarf deshalb vorliegend einer Überprüfung, ob die Konversion des Klägers aufgrund einer glaubhaften Zuwendung zum christlichen Glauben im Sinne eines ernst gemeinten religiösen Einstellungswandels mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung und nicht lediglich auf bloßen Opportunitätsgründen beruht. Insoweit trägt der Kläger die Darlegungs- und Beweislast für diese in seinem persönlichen Bereich abspielenden Vorgän-ge; die Prüfung dieser inneren Tatsachen kann nur aufgrund einer wertenden Betrachtung nach außen erkennbarer Umstände und der Überzeugungskraft dazu abgegebener Erklärungen erfolgen, wie etwa zur Entwicklung des Kontaktes zu dem neuen Glauben, zur Glaubensbetätigung und zu Kenntnissen über die neuen Glaubensinhalte (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 26.07.2007 a.a.O.).

Hiernach bestehen an der Ernsthaftigkeit der Konversion des Klägers zum Christentum keine Zweifel. Das Bundesamt hält dem Kläger im angefochtenen Bescheid zu Unrecht entgegen, er sei formal kein Christ und er habe dem Bundesamt und dem Verwaltungsgericht hinsichtlich seiner Taufe die Unwahrheit gesagt. Die vom Bundesamt im vorliegenden Verfahren eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 12.04.2007 besagt lediglich, dass eine Nachfrage bei der Verwaltungszentrale der Pfingstgemeinde in Teheran ergeben habe, dass eine Person mit dem Namen des Klägers dort nicht im Taufregister geführt werde. Dies ist aber auch nicht verwunderlich, da für Konvertiten in der Regel weder Taufurkunden ausgestellt noch Einträge im Taufregister verzeichnet werden (so Auswärtiges Amt, Auskunft vom 04.06.2002 an BAFl). Es ist deshalb nicht nachvollziehbar und mehr als befremdlich, dass das Bundesamt allein aus dem Umstand, dass der Kläger bei der Pfingstgemeinde in Teheran nicht im Taufregister geführt wird, das gesamte Vorbringen des Klägers hinsichtlich seiner im Iran vollzogenen Konversion mit erfolgter Taufe als unglaubhaft bewertet.

Dem Kläger drohen im Iran auch Verfolgungshandlungen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 und 2 RL, wenn er dort die durch Art. 10 Abs. 1 b RL geschützten Verhaltensweisen praktiziert, also seinen christlichen Glauben nach außen erkennbar, insbesondere durch eine regelmäßige Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten, lebt.

Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass konvertierte Muslime keine öffentlichen christlichen Gottesdienste besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Es kann deshalb offen bleiben, ob durch die in jüngster Zeit erfolgte Verschärfung der Situation im Iran nunmehr auch das religiöse Existenzminimum nicht mehr gewahrt ist (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 20.02.2007 - 22 K 3453/05.A - Juris -).

Aus den letzten Jahren gibt es aber wieder vermehrt Berichte über Verfolgung von Christen im Iran.

Seit der Wahl Ahmadinejads im Juni 2005 hat sich die Situation für Christen weiter verschlechtert.

Nach dieser Auskunftslage steht fest, dass konvertierte Muslime bei einer Rückkehr in den Iran nicht an religiösen Riten teilnehmen, insbesondere christliche Gottesdienste nicht besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden (ebenso die Einschätzung fast sämtlicher Gerichte aus neuerer Zeit, vgl. VGH München, Urt. v. 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - Juris -; VG Düsseldorf, Urt. v. 15.08.2006, Asylmagazin 11/2006, 26; Urt. v. 29.08.2006 - 2 K 3001/06.A - Juris - und Urt. v. 24.04.2007 - 2 K 4/07.A -; VG Meiningen, Urt. v. 10.01.2007 - 5 K 20256/03.Me - Juris -; VG Bayreuth, Urt. v. 27.04.2006 - B 3 K 06.30073 - Juris -; VG Karlsruhe, Urt. v. 19.10.2006, ZAR 2007, 201 und Urt. v. 04.10.2007 - A 6 K 1306/06; VG Neustadt, Urt. vom 14.05.2007, Asylmagazin 7-8/2007, 35; VG Hamburg, Urt. v. 31.05.2007, Asylmagazin 10/2007, 22 und Urt. v. 17.07.2007 - 10 A 918/05 - Juris -). Durch die drohenden staatlichen Maßnahmen, die sich gegen die nach Art. 10 Abs. 1 b RL geschützte Glaubensbetätigung des Klägers richten würden, würde der Kläger landesweit jedenfalls in seiner Freiheit beeinträchtigt. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass es sich bei den angeführten Referenzfällen lediglich um Einzelfälle handelt. Zum einen spricht viel dafür, dass die vorliegenden Auskünfte und Berichte die Verfolgungssituation der protestantischen Gemeinden im Iran nur unvollständig wiedergeben, da die Apostaten ihre Konversion geheim halten, nicht darüber sprechen und versuchen, die Dinge nach außen nicht sichtbar werden zu lassen (vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 06.12.2004 an OVG Bautzen; ai, Auskunft vom 21.07.2004 an OVG Bautzen).

Zudem ist zu berücksichtigen, dass eine Verfolgung bereits dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wenn in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.03.1988, BVerwGE 79, 143).

Die vom Kläger zu befürchtenden angesprochenen Verfolgungsmaßnahmen sind danach als beachtlich wahrscheinlich anzusehen. Aufgrund der Willkür des iranischen Regimes ist bei einer offenen Darstellung des Glaubensübertritts sowie im Falle einer nicht verheimlichten Religionsausübung jedenfalls in einer beträchtlichen Anzahl der Fälle mit der Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass im Iran Folter bei Verhören, in der Untersuchungshaft und in regulärer Haft vorkommt. Es gibt im Iran weiterhin willkürliche Festnahmen sowie lang andauernde Haft ohne Anklage oder Urteil (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 21.09.2006 und vom 04.07.2007). Unter diesen Umständen kann bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Klägers trotz der möglicherweise unter 50 % liegenden Wahrscheinlichkeit die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden.