BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 17.12.2007 - 10 B 92.07 - asyl.net: M12702
https://www.asyl.net/rsdb/M12702
Leitsatz:
Schlagwörter: Verfahrensrecht, Verfahrensmangel, Sachaufklärungspflicht, Lageberichte, Auswärtiges Amt, Aserbaidschan, Armenier, interne Fluchtalternative, Überzeugungsgewissheit
Normen: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; VwGO § 86 Abs. 1; VwGO § 130a; AufenthG § 60 Abs. 5; VwGO § 108 Abs. 1
Auszüge:

Die Beschwerde ist begründet. Der beteiligte Bundesbeauftragte rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 86 Abs. 1 VwGO). Denn das Berufungsgericht, das seine Entscheidung im Beschlussverfahren nach § 130a VwGO getroffen hat, hat für seine Überzeugungsbildung den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 23. März 2006 nicht herangezogen. Bei den regelmäßig erstellten Lageberichten des Auswärtigen Amtes, die für die richterliche Aufklärung der maßgeblichen politischen Verhältnisse in den Herkunftsstaaten von zentraler Bedeutung sind, sind die mit Asylsachen befassten Verwaltungsgerichte grundsätzlich gehalten, sich von Amts wegen zu vergewissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und asylrechtlich erhebliche Änderungen der politischen Verhältnisse in dem betreffenden Land beschreibt. Die Verletzung dieser aus § 86 Abs. 1 VwGO folgenden Aufklärungspflicht begründet einen Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (vgl. Beschluss vom 9. Mai 2003 - BVerwG 1 B 217.02 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 Nr. 329).

Die von der Beschwerde angefochtene Berufungsentscheidung kann auch darauf beruhen, dass das Berufungsgericht den Lagebericht nicht herangezogen hat. Der Bundesbeauftragte trägt vor, der Bericht enthalte u.a. Erkenntnisse darüber, dass Personen armenischer Abstammung zwar vielfach schlechter behandelt würden als andere Personengruppen, dass die Praxis der Diskriminierung jedoch nicht durchgängig bestehe und in einem Großteil der Problemfälle auf die allgemeine Korruption zurückgehe, von der die aserbaidschanische Bevölkerung in nahezu gleicher Weise betroffen sei. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei Heranziehung des Lageberichts zu einer anderen Beurteilung der Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG gekommen wäre.

Auf die von der Beschwerde weiter geltend gemachten Revisionszulassungsgründe kommt es deshalb nicht mehr entscheidend an. Der Senat bemerkt gleichwohl zu der Rüge, in dem Berufungsbeschluss fehle es an der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebotenen richterlichen Überzeugungsbildung zum Fehlen einer inländischen Fluchtalternative, dass insoweit ein Verfahrensfehler nicht vorliegt. Zwar darf das Berufungsgericht seine Überzeugungsbildung, ob eine innerstaatliche Ausweichmöglichkeit vor den Gefahren nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, nicht im Ungewissen lassen, sondern muss davon überzeugt sein, dass eine Ausweichmöglichkeit unter Zugrundelegung des von ihm gewählten Prognosemaßstabs (hier: beachtlicheWahrscheinlichkeit) vorliegt oder nicht vorliegt (vgl. Urteile vom 20. November 1990 - BVerwG 9 C 72.90 - BVerwGE 87, 141 <151> und vom 9. April 1991 - BVerwG 9 C 91.90 u.a. - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 143). Eine solche Überzeugungsbildung ist dem angefochtenen Beschluss aber trotz der gewählten missverständlichen Formulierungen ("dürfte ... daran liegen" <BA S. 8>, eine illegale Einreise "scheint letztlich nicht offen zu stehen" <BA S. 10>) deshalb zu entnehmen, weil an anderer Stelle klargestellt wird, dass dem Kläger die Möglichkeit der legalen und illegalen Einreise nach Berg-Karabach "aller Wahrscheinlichkeit nach" nicht zur Verfügung stehe (BA S. 10 und S. 11), sich das Berufungsgericht also im Ergebnis die gebotene Überzeugung gebildet hat.