VG Göttingen

Merkliste
Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 13.03.2008 - 2 A 371/05 - asyl.net: M12982
https://www.asyl.net/rsdb/M12982
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, Kurden, Folgeantrag, exilpolitische Betätigung, Artikel, Internet, Überwachung im Aufnahmeland, Inhaftierung, Folter, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Anerkennungsrichtlinie
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; RL 2004/83/EG Art. 5 Abs. 3
Auszüge:

Soweit die Klage aufrechterhalten wird, ist sie zulässig und begründet.

Die Voraussetzungen für das Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (den weitergehenden Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte verfolgt die Klägerin nicht mehr) liegen vor.

Die Sachlage hat sich jedoch auch dadurch zugunsten der Klägerin geändert, dass sie im Frühjahr 2006 begonnen hat, im Bundesgebiet exilpolitisch tätig zu werden und sich für die Belange der Kurden in Syrien einzusetzen. Insoweit hat sie - was den Beginn der exilpolitischen Tätigkeit anbelangt - die Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 S. 1 VwVfG nicht eingehalten, denn diese Aktivitäten wurden dem Gericht erstmals mit Schriftsatz vom 28.02.2007 (nach der Ladung zur ersten mündlichen Verhandlung) bekannt gegeben. Auf den Zeitpunkt dieser Bekanntgabe kommt es grundsätzlich an, da das Gerichtsverfahren bereits anhängig war (vgl. Funke-Kaiser, AsylVfG, § 71, RN 142. 236). Die Klägerin hat jedoch danach nicht aufgehört, exilpolitisch tätig zu sein, sondern hat auch weiterhin unter anderem zahlreiche Artikel verfasst, die im Internet veröffentlicht worden sind. Jede dieser Aktivitäten stellt einen neuen Wiederaufgreifensgrund dar, der die Dreimonatsfrist eröffnet. Seit März 2007 hat die Klägerin dem Gericht jeweils zeitgerecht von ihren Aktivitäten berichtet. Das hat zur Folge, dass alle Aktivitäten der Klägerin, die seit Dezember 2006 bis jetzt stattgefunden haben; in diesem Verfahren rechtlich zu würdigen sind. Die von der Prozessbevollmächtigten der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 19.03.2007 aufgeworfene Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 S. 1 VwVfG stellt sich mithin nicht.

Wegen der soeben bezeichneten exilpolitischen Aktivitäten der Klägerin ist ihr Leben oder jedenfalls ihre Freiheit wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht, wenn sie nach Syrien abgeschoben wird. Nach den dem Gericht vorliegenden Auskünften sind aus Syrien stammende Kurden gefährdet, Sanktionen des syrischen Staates ausgesetzt zu sein, wenn sie sich öffentlich für ihre Rechte einsetzen und in diesem Zusammenhang die syrische Politik kritisieren. Solche Personen müssen bei ihrer Rückkehr nach Syrien mit Verhören durch syrische Sicherheitsdienste sowie Festnahmen und Inhaftierung ohne Anklage rechnen. Bei der Inhaftierung besteht in der Regel die Gefahr der Folter (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der arabischen Republik Syrien vom 26.02.2007, Seite 15, 16; Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom 20.03.2006 an das VG Bayreuth). Aus diesen Erkenntnismitteln ergibt sich auch, das der syrische Geheimdienst exilpolitische Tätigkeiten im Ausland beobachtet, wobei die mehr oder weniger anonyme politische Betätigung wie etwa die Teilnahme an Demonstrationen, das Stehen an Büchertischen oder das Verbreiten von Flugblättern, aber auch "standardmäßige" Ansprachen auf Konferenzen nicht geeignet sind, das Interesse des syrischen Geheimdienstes zu wecken. Den syrischen Behörden ist ferner auch bekannt, das der Aufenthalt in Deutschland oft auf der Basis behaupteter politischer Verfolgung erfolgt und dass nach Rückkehr einer derartigen Person deren Betätigung im Bundesgebiet erst dann als Schädigung der syrischen Interessen angesehen und zur Grundlage von Verhaftungen und Repressionen gemacht wird, wenn deren exilpolitische Betätigung einer breiten Öffentlichkeit bekannt und an entsprechender Stelle zur Kenntnis genommen wird (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26.02.2007, Seite 20). Das gilt auch für Internetauftritte, in denen die Kurdenpolitik des syrischen Staates angegriffen und bloßgestellt wird und die den Verfasser des Artikels eindeutig erkennen lassen (Deutsches Orient-Institut, a.a.O.). Derartige Artikel hat die Klägerin verfasst.

Die Bestimmung des § 28 Abs. 2 AsylVfG steht der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Klägerin nicht entgegen. Die Vorschrift ist zusammen mit dem durch das Gesetz vom 19.08.2007 (BGBl. I Seite 1970) eingefügten Abs. 1 a zu lesen, mit dem (unter anderem) die Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004 (a.a.O.) umgesetzt wurden. Die in Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie für Folgeanträge - jedoch unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention - den Mitgliedsstaaten zugestandene Regelungskompetenz, eine Anerkennung als Flüchtling in der Regel auszuschließen, wenn die Verfolgungsgefahr auf "Umständen" beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat, ist nach dem Sprachgebrauch der Richtlinie (vgl. Art. 4 Abs. 3 c) allein auf persönliche Umstände (familiärer und sozialer Hintergrund, Ehe, Kinder, Arbeitslosigkeit usw.) zu beschränken; zu den "Aktivitäten" ist hingegen eine Bewertung dahingehend vorzunehmen, ob ihretwegen im Falle einer Rückkehr Verfolgung stattfindet. Mithin gehören exilpolitische Aktivitäten nicht zu den "Umständen" im Sinne von § 28 Abs. 2 AsylVfG (vgl. VG Lüneburg, Urteil vom 21.01.2008 - 1 A 215/05 - Juris). Dass die Klägerin bereits in Syrien die Überzeugung hatte, sie müsse sich für die Belange der unterdrückten Kurden einsetzen, hat sie bei ihrer Vernehmung in der mündlichen Verhandlung glaubhaft beschrieben, in dem sie darauf hingewiesen hat, das sie - selbstverständlich heimlich - Spenden gesammelt und Flugblätter verteilt hat, wofür sie zum Teil selbst (unter dem Pseudonym ...) Artikel verfasst hat. Dieser Einschätzung des Gerichts steht die Rechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 07.03.2005 - 11 A 4559/04 - nicht entgegen, denn auch dort wurde der Klägerin nicht abgesprochen, das sie sich bereits in Syrien für kurdische Belangte eingesetzt hat.