VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 12.03.2008 - 3 E 4028/07.A - asyl.net: M12987
https://www.asyl.net/rsdb/M12987
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Widerruf, Änderung der Sachlage, Versorgungslage, Sicherheitslage, Rechtskraft, Kabul, Paktia, Situation bei Rückkehr, alleinstehende Personen
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die angefochtene Entscheidung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Rechtsgrundlage des Bescheides ist § 73 Abs. 3 AsylVfG.

Beruht - wie im vorliegenden Fall - die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG durch das Bundesamt auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil, so hindert die Rechtskraft dieser gerichtlichen Entscheidung bei unveränderter Sach- und Rechtslage die Aufhebung der Feststellung durch das Bundesamt.

Wenn es - wie hier - auf die allgemeinen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Herkunftsland eines Flüchtlings ankommt, sind diese naturgemäß ständigen Änderungen unterworfen. Eine Lösung der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann daher nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der Sachlage entscheidungserheblich ist.

Die Klärung rechtlicher und tatsächlicher Zweifelsfragen im Zusammenhang mit der Abschiebung junger, arbeitsfähiger, männlicher Afghanen in ihr Heimatland durch das Grundsatzurteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 07.02.2008 - 8 UE 1913/06.A - berechtigt das Bundesamt nicht zu einem Widerruf.

In seinem obengenannten Urteil hat sich der Hessische Verwaltungsgerichtshof sodann mit der Frage befasst, ob Rückkehrer in Afghanistan eine extreme Gefahrenlage erwartet, und hat sie differenzierend beantwortet. Er hat entschieden, dass junge, alleinstehende, arbeitsfähige Männer aus Afghanistan, auch wenn sie dort keinen familiären oder sozialen Rückhalt haben, nach gegenwärtiger Sach- und Rechtslage in ihr Heimatland abgeschoben werden dürfen, sofern nicht in ihrer Person begründete besondere individuelle Risiken bestehen, die sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan einem deutlich erhöhten Existenzrisiko aussetzen würden.

Allerdings beruht die Entscheidung nicht darauf, dass der Hessische Verwaltungsgerichtshof entscheidende positive Veränderungen der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan seit Anfang des Jahres 2004 festgestellt hätte. Er bewertet die Zumutbarkeit einer Rückkehr lediglich anders als das im Fall des Klägers damals erkennende Gericht.

Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 06.08.2003, auf den sich das Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen u. a. stützt, fasst die soziale Lage in Afghanistan wie folgt zusammen: "Afghanistan gehört nach den Kriegsjahren und einer langjährigen Dürre zu einem der ärmsten Länder der Welt. Die Wirtschaftslage ist weiterhin desolat, erste Schritte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen sind allerdings eingeleitet. Die humanitäre Situation stellt die Bevölkerung vor allem mit Blick auf die etwa 2 Millionen - meist aus Pakistan zurückgekehrten - Flüchtlinge vor große Herausforderungen."

Der letzte Lagebericht vom 17.03.2007 wiederholt diese Beurteilung fast wörtlich. Der einzig nennenswerte Unterschied besteht in der Feststellung, dass mittlerweile mehr als 4,5 Millionen Flüchtlinge zurückgekehrt seien, welche die Bevölkerung vor große humanitäre Herausforderungen stellten. In beiden Berichten heißt es übereinstimmend, die Versorgungslage in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten habe sich zwar grundsätzlich verbessert, doch profitierten wegen mangelnder Kaufkraft längst nicht alle Bevölkerungsschichten von der verbesserten Lage.

Zur speziellen Situation von Rückkehrern aus Europa enthält nur der aktuellere Bericht Informationen, weil 2003 erst wenige Afghanen aus Großbritannien und Frankreich abgeschoben worden waren und die anderen EU-Staaten zwangsweise Rückführungen noch für verfrüht hielten. Es heißt dort: "Rückkehrer, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, stoßen auf größere Schwierigkeiten als Rückkehrer, die in größeren Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren (vor allem aus Iran und Pakistan), wenn ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk, sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen. Sie können auf übersteigerte Erwartungen hinsichtlich ihrer finanziellen Möglichkeiten treffen, sodass von ihnen überhöhte Preise gefordert werden. Von den ‘Zurückgebliebenen’ werden sie häufig nicht als vollwertige Afghanen akzeptiert. Andererseits bringen Afghanen, die in den Kriegs- und Bürgerkriegsjahren im westlichen Ausland Zuflucht gesucht haben, von dort in der Mehrzahl der Fälle einen besseren finanziellen Rückhalt, eine qualifiziertere Ausbildung und umfangreichere Fremdsprachenkenntnisse mit als Afghanen, die in die Nachbarländer geflüchtet sind. Derartige Qualifikationen verschaffen ihnen bei der Reintegration einen deutlichen Vorteil." Eine gegenüber den Vorjahren günstigere Entwicklung für Rückkehrer lässt sich daraus nicht ableiten.

Die Sicherheitslage wird in beiden Lageberichten als regional unterschiedlich beurteilt. Im Süden, Osten und Südosten des Landes, woher der Kläger stammt, wird von seit Jahren andauernden militärischen Auseinandersetzungen der Antiterrorkoalition mit radikal-islamistischen Kräften berichtet. Im Raum Kabul sei die Sicherheitslage aufgrund der ISAF-Präsenz im regionalen Vergleich zufriedenstellend, bleibe aber damals wie heute fragil. Der UNHCR bezeichne sie seit Mitte 2002 als ausreichend sicher für freiwillige Rückkehrer.

Für eine Verbesserung der Sicherheitslage in der Heimatprovinz des Klägers oder in Kabul seit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen lassen sich folglich keine tragfähigen Anhaltspunkte finden. Die zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen deuten eher auf eine Verschärfung hin. Die unzureichende Versorgungslage, die den Schwerpunkt der Argumentation dieses Urteils bildet, besteht nach Einschätzung sämtlicher Experten ebenfalls fort, auch wenn die seitherige Entwicklung partiell Verbesserungen gebracht haben mag.

Zwar hat das erkennende Gericht Zweifel an der nach wie vor unsubstantiierten Behauptung des Klägers, sämtliche, auch entfernte Verwandte hätten Afghanistan verlassen. Doch auch wenn das Verwaltungsgericht Gießen dies unzutreffender Weise als wahr unterstellt haben sollte, kann diese Erkenntnis nicht als nachträgliche Änderung einer Sachlage eingestuft werden, die von vornherein nicht den damals festgestellten Tatsachen entsprochen hatte.

Auch die in der mündlichen Verhandlung zutage getretene Möglichkeit, dass sich der Kläger von seinen in Deutschland lebenden Verwandten finanziell bei der Wiedereingliederung unterstützen lässt, kann nicht mehr zu seinen Lasten herangezogen werden. Diese Unterstützung wäre auch 2004 schon möglich gewesen, da zumindest der Bruder des Klägers damals bereits seit ca. 10 Jahren hier lebte. Dass das damals erkennende Gericht diesen Umstand nicht in seine Erwägungen mit einbezogen hat, lässt sich nicht durch einen Widerruf korrigieren.

Betrachtet man die nicht sonderlich positive allgemeine Entwicklung in Afghanistan seit Anfang 2004 und die unveränderten individuellen Möglichkeiten des Klägers in einer Zusammenschau, so ist der Schluss gerechtfertigt, dass keine ausreichende Veranlassung bestanden hatte, ein Widerrufsverfahren zu eröffnen. Die in dem angefochtenen Bescheid vertretene Rechtsauffassung, den Kläger erwarte in Afghanistan keine ein Abschiebungsverbot begründende extreme Gefahrenlage, entspricht zwar der obergerichtlichen Rechtsprechung, setzt sich aber in unzulässiger Weise über die Rechtskraft einer anderslautenden Gerichtsentscheidung hinweg.