LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 16.04.2008 - L 11 AY 5/07 - asyl.net: M13138
https://www.asyl.net/rsdb/M13138
Leitsatz:

Die Verweigerung der freiwilligen Ausreise von armenischen Christen aus dem Irak ist keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG; rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts besteht nur bei Verhalten, das ursächlich für die Aufenthaltsverlängerung ist und noch fortwirkt; bei mehreren Umständen, die Einfluss auf die Aufenthaltsdauer haben können, ist eine Gesamtbetrachtung anzustellen.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Irak, Iraker, Armenier, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Nordirak, interne Fluchtalternative, Ursächlichkeit, Mitwirkungspflichten, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung, Beweislast, Gesamtschau, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Verweigerung der freiwilligen Ausreise von armenischen Christen aus dem Irak ist keine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG; rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts besteht nur bei Verhalten, das ursächlich für die Aufenthaltsverlängerung ist und noch fortwirkt; bei mehreren Umständen, die Einfluss auf die Aufenthaltsdauer haben können, ist eine Gesamtbetrachtung anzustellen.

(Leitsatz der Redaktion)

Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

Der Antragstellerin stehen aller Voraussicht nach Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu. Insofern war der Beschluss des SG Braunschweig vom 18. Dezember 2006 abzuändern und die Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, Leistungen auf Sozialhilfeniveau ab dem 6. Dezember 2006 bis zum Abschluss des Klageverfahrens (Az.: S 20 AY 1/07) zu gewähren.

Die Anspruchsvoraussetzungen liegen nach der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung für den gesamten Zeitraum vor. Die Antragstellerin hat vor dem streitigen Zeitraum Leistungen nach § 3 AsylbLG über eine Dauer von 36 bzw. 48 Monaten bezogen. Die Antragstellerin hat auch nicht rechtsmissbräuchlich die Dauer ihres Aufenthalts beeinflusst. Die Beweislast für das Vorliegen eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens liegt bei der Leistungsbehörde. Die Antragstellerin hat zwar die in ihren Verhältnissen liegenden Bleibegründe darzulegen, der Antragsgegnerin fällt jedoch die Nichterweislichkeit von Rechtsmissbrauch zur Last, weil es sich dabei materiell um eine anspruchsausschließende Einwendung handelt (vgl. auch BSG, Urteil vom 8. Februar 2007 - B 9b AY 1/06 R -).

Das Bundessozialgericht (BSG) hat inzwischen entschieden, dass es rechtsmissbräuchlich ist, wenn ein Ausländer nicht freiwillig ausreist, obwohl ihm diese Aus reise möglich und zumutbar ist (Urteil vom 8. Februar 2007 a.a.O.).

Nach den aufgeführten Maßstäben war der Antragstellerin eine Rückkehr in den Irak im streitigen Zeitraum nicht zumutbar. Die Antragstellerin ist leistungsrechtlich unverschuldet nicht ausgereist.

Der Senat macht sich insofern die Ausführungen des VG Braunschweig in seinem Urteil vom 26. März 2007 zu Eigen. Ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG besteht danach, weil die Antragstellerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Irak wegen ihrer armenischen Volkszugehörigkeit bedrohlichen Gefahren durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt ist. Die Antragstellerin kann voraussichtlich auch deshalb nicht ohne weiteres in den Nord-Irak zurückkehren, weil die Region Kurdistan-Irak durch neue Vorschriften den Zuzug aus dem übrigen Irak stark eingeschränkt hat. Zuwanderer müssen kurdische Bürger sein. Daher sind mittlerweile verwandtschaftliche Beziehungen notwendig, um in die Kurdengebiete zu flüchten. Diese Regelungen stehen vermutlich auch einer Rückkehr der Antragstellerin aus dem Ausland entgegen, da sie nicht über verwandtschaftliche Beziehungen in den Nord-Irak verfügt.

Der Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise steht auch nicht das Verhalten der Antragstellerin im Leistungszeitraum entgegen. Zuzustimmen ist dem erstinstanzlichen Gericht zwar dahingehend, dass die Antragstellerin durch Verweigerung der Mitwirkung an der Beschaffung von Passersatzpapieren ihren Mitwirkungspflichten voraussichtlich nicht hinreichend nachgekommen ist. Jedoch hat die Antragstellerin durch das voraussichtliche Fehlverhalten die Dauer ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG wonach der Ausländer die Dauer des Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben darf, ist zwingend zu entnehmen, dass nur rechtsmissbräuchliches Verhalten relevant sein kann, das sich auf die Dauer des Aufenthaltes kausal ausgewirkt hat. Hier aber ist das Verhalten des Ausländers während der gesamten Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik zu betrachten, nicht etwa nur der streitgegenständliche Zeitraum oder nur der Zeitpunkt ab rechtskräftigem Abschluss des Asylverfahrens. Nach Auffassung des erkennenden Senates kommt es mithin darauf an, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten des Asylbewerbers im konkreten Fall kausal verlängernd auf die Dauer des Aufenthaltes in der Bundesrepublik ausgewirkt hat. Nur wenn ein solcher Zusammenhang mit der notwendigen richterlichen Überzeugungsbildung im Einzelfall festgestellt werden kann, kann sich das aufenthaltsverlängernde, rechtsmissbräuchliche Verhalten auch leistungseinschränkend einwirken. Das kausale, vorwerfbare Verhalten muss im streitgegenständlichen Zeitraum noch fortwirken (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 16. Oktober 2007 - Az: L 11 AY 61/07 -). Diese konkret kausale Betrachtungsweise des Ausländers bzw. leistungsrelevanten Verhaltens im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG führt im Ergebnis dazu, dass das voraussichtliche ausländerrechtliche Fehlverhalten die Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik unbeeinflusst gelassen hat, weil der Antragstellerin während desselben Zeitraums die Ausreise in den Irak nicht zumutbar gewesen wäre und sie somit leistungsrechtlich unverschuldet nicht ausgereist ist. Bei mehreren Umständen, die aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen während des gesamten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland Einfluss auf dessen Dauer haben können, sind alle Umstände im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu würdigen und zu gewichten. Bei der Gesamtbetrachtung aller hier maßgeblichen Umstände seit der Einreise der Antragsteller in die Bundesrepublik fällt - jedenfalls nach dem im Eilverfahren anzulegenden Prüfungsmaßstab - das Fehlverhalten hinsichtlich der Nichtmitwirkung an der Beschaffung von Passersatzpapieren nicht derart ins Gewicht, als dass ihnen eine freiwillige Ausreise leistungsrechtlich zumutbar gewesen wäre. Hierfür spricht insbesondere, dass die Identität und Staatsangehörigkeit offensichtlich auch von der Antragsgegnerin nicht in Zweifel gezogen worden ist. Denn bei einer Rückkehr in den Irak drohen Lebensgefahr bzw. Gefahr für die Gesundheit - diesen Gefahren ist in der Abwägung ein deutlich höheres Gewicht beizumessen.