VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 25.04.2008 - 2 L 201/08.GI.A - asyl.net: M13157
https://www.asyl.net/rsdb/M13157
Leitsatz:

Aussetzung einer Überstellung im Rahmen der Dublin II-Verordnung an Griechenland wegen Nichteinhaltung der europarechtlichen Mindeststandards.

Schlagwörter: Verordnung Dublin II, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, vorbeugender Rechtsschutz, Vorwegnahme der Hauptsache, Griechenland (A), Abschiebungsanordnung, Verfassungsmäßigkeit, Drittstaatenregelung, Genfer Flüchtlingskonvention, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Verfahrensrichtlinie, Aufnahmebedingungen, Verfahrensrecht, Flüchtlingslager, Unterbringung, Inhaftierung, Minderjährige, Selbsteintrittsrecht, Ermessen
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; VO Nr. 343/2003 Art. 18; AsylVfG § 27a; AsylVfG § 34a; GG Art. 16a Abs. 2; AsylVfG § 26a; VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist als Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zulässig.

Das Bundesamt hatte bereits zum Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bei Gericht das Verfahren zur Abschiebung der Antragsteller und der Antragstellerin in den nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 - VO Nr. 343/2003/EG - (im Folgenden Dublin II-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat eingeleitet. Da Griechenland das Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland vom 15.02.2008 nicht innerhalb der 2-Monatsfrist beantwortet hat, ist nach Art. 18 Abs. 1 und 7 der Dublin II-VO davon auszugehen, dass dem Aufnahmeersuchen stattgegeben wird. Da laut Auskunft des Bundesamtes nunmehr der Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 27 a AsylVfG unmittelbar bevorsteht, ist das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis der Antragsteller gegeben.

Dem einstweiligen Rechtsschutzbegehren der Antragsteller steht die Regelung des § 34 a AsylVfG nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der auf dem Wege des § 27 a AsylVfG ermittelt worden ist, nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden.

In verfassungskonformer Auslegung des Ausschlusses vorläufigen Rechtsschutzes kommt die vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist.

Nach der insoweit maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Drittstaatenregelung (Urteil vom 14.5.1996 (2 BvR 1938/93, BVerfGE 94, 49 - 114) ist die Vorschrift des § 34 a AsylVfG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen in den sicheren Drittstaat nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen nach den allgemeinen Regeln möglich bleibt.

Davon ausgehend, dass es sich bei den Mitgliedstaaten der Europäischen Union um sichere Drittstaaten i.S.d. Art. 16 a Abs. 2 GG bzw. § 26 a AsylVfG handelt, ist aufgrund des diesen Vorschriften zugrunde liegenden normativen Vergewisserungskonzepts davon auszugehen, dass dort die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt ist. Zudem beruht die Dublin II-VO wie jede auf Art. 63 Satz 1 Nr. 1 EG-Vertrag gestützte gemeinschaftsrechtliche Maßnahme auf der Prämisse, dass die zuverlässige Einhaltung der GFK sowie der EMRK in allen Mitgliedstaaten gesichert ist (vgl. Begründungserwägung Nr. 2 und 12 der Dublin II-VO und Art. 6 Abs. 2 sowie Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 lit. a EGV).

Eine Prüfung, ob der Zurückweisung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. Dabei sind an die Darlegung eines Sonderfalles strenge Anforderungen zu stellen (BVerfG, a.a.O., S. 100).

Das Bundesverfassungsgericht sieht in seiner Entscheidung einen Ausnahmefall, der eine Prüfung im Eilrechtsschutz ermöglicht, wenn der Ausländer individuelle konkrete Gefährdungstatbestände im Drittstaat darlegt, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können.

Die Antragsteller und die Antragstellerin legen in ihrem Antrag eine Gefährdungssituation im Falle ihrer Verbringung nach Griechenland dar, die in Orientierung an der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Ausnahmefall gesehen werden kann.

Hinsichtlich der Gefährdungstatbestände im Drittstaat, die vom Konzept der normativen Vergewisserung nicht erfasst sind, weil sie durch Umstände begründet werden, die von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind, nennt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, a.a.O., S. 71 f.) etwa die drohende Todesstrafe im Drittstaat, eine erhebliche konkrete Gefahr, dass der Ausländer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verbringung in den Drittstaat dort Opfer eines Verbrechens wird, welches zu verhindern nicht in der Macht des Drittstaats steht. Ferner kommt der Fall in Betracht, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26 a AsylVfG hierauf noch aussteht. Nicht umfasst vom Konzept normativer Vergewisserung sind hiernach auch Ausnahmesituationen, in denen der Drittstaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird oder - etwa aus politischer Rücksichtnahme gegenüber dem Herkunftsstaat - sich des Flüchtlings ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen könnte.

Die Antragsteller und die Antragstellerin befürchten, dass ihnen im Falle der Abschiebung nach Griechenland dort ein menschenrechtswidriges und europäisches Recht verletzendes Verfahren droht.

Der mit der Bestimmung zum sicheren Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2 GG einhergehende Ausschluss des Eilrechtsschutzes erfordert nach Auffassung des Gerichts, dass Ausländern im Drittstaat ein Prüfungsverfahren offen steht, das insbesondere die Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß der europäischen Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1.12.2005 (ABl. L 326, S. 13 v. 13.12.2005) einhält. Weiterhin erfordert der Ausschluss des Eilrechtsschutzes, die Einhaltung der Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten gemäß der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 (ABl. L 31/18 v. 6.2.2003).

Die feststellbare Verletzung insbesondere des vorgenannten europäischen Rechts, die mit Grundrechts- und Menschenrechtsverletzungen einhergeht, dürfte nach Auffassung des Gerichts als weiterer, von dem Bundesverfassungsgericht zur Zeit des Ergehens seiner Entscheidung noch nicht berücksichtigungsfähiger Sonderfall hinzukommen (so auch VG Frankfurt/Main, B. vom 11.01.2008 - 7 G 3911/07 hinsichtlich der Richtlinie 2005/85/EG).

Das erkennende Gericht erachtet diesen Fall von vergleichbarem Gewicht wie den vom Bundesverfassungsgericht aufgeführten Sonderfall, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26 a AsylVfG hierauf noch aussteht. Der Dublin II-VO liegt die gemeinschaftsrechtlich verankerte und gesicherte Erwägung zugrunde, dass Flüchtlingen in allen Mitgliedstaaten (jedenfalls normativ) ein gleichwertiges Asylverfahren offen steht. Entgegen dieser Erwägung ist dies Griechenland betreffend nicht der Fall.

Ausgehend von der Zielrichtung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, nämlich eine Lastenverteilung zwischen den an einem solchen System beteiligten Staaten zu erreichen, lässt sich feststellen, dass Griechenland als an der Außengrenze der EU liegendes Land aktuell ungleich stärker belastet und erheblich überfordert ist. Entsprechend wird kritisiert, mit der Dublin II-Verordnung werde die Bewältigung des Flüchtlingsansturms hauptsächlich auf die Länder mit Außengrenzen in Ost- und Südeuropa abgewälzt.

Die Lage in der Ost-Ägäis hat sich in den letzten fünf Jahren verschärft. In diesem Zeitraum haben fast 400.000 Personen versucht, illegal nach Griechenland einzureisen. Allein auf Samos wurden 2007 in den ersten neun Monaten mehr als 3.500 illegal eingereiste Migranten festgenommen (Bericht der NZZ vom 5.10.2007).

Festzustellen ist, dass der Druck auf die Außengrenzen der EU gewachsen ist. Während sich in den letzten fünf Jahren die Zahl der Asylanträge EU-weit halbiert hat, gehört Griechenland zu den wenigen EU-Staaten, die einen erheblichen Anstieg zu verzeichnen haben. Nach Angaben des Ministry of Public Order registrierte Griechenland in 2005 9.050 Asylanträge, doppelt so viel wie im Vorjahr 2006 verzeichneten die griechischen Behörden einen Anstieg auf 12.270 Asylgesuche. Von Januar bis Juli 2007 wurden 14594 Asylanträge registriert (Pro Asyl, Bericht vom Oktober 2007 "The truth may be bitter, but it must be told"). Der UNHCR berichtet, Schätzungen der Regierung zufolge gebe es im Moment 40.000 unbearbeitete, noch nicht registrierte Asylanträge. Diese Zahl sei genau so hoch wie die Zahl der im Zeitraum von Januar 2004 bis Ende Juni 2007 gestellten Asylanträge (Auskunft an VG Frankfurt/Main vom 10.01.2008).

Das Gericht nimmt an, dass der Europäische Rat mit dem Erlass der Verordnung, welche die Grundsätze des Dubliner Übereinkommens beibehält, zwar davon ausgegangen ist und hingenommen hat, dass in der Praxis Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten der EU hinsichtlich der Aufnahme von Asylsuchenden und der Behandlung der Asylanträge bestehen, diese jedoch durch die erlassenen Richtlinien und die Instrumentarien zu ihrer Umsetzung in erforderlichen Rechtsvorschriften schrittweise durch harmonisierte Standards ausgeglichen werden. Demgegenüber haben sich die Ungleichheiten in Recht und Praxis bezüglich Griechenland - nicht zuletzt aufgrund der aufgezeigten außergewöhnlichen Belastung - erheblich verstärkt, mit der Folge, dass Asylsuchende in Griechenland erheblichen Rechtsverletzungen mit teils irreversiblen Nachteilen ausgesetzt sind. Damit liegt eine grundlegend veränderte Situation gegenüber derjenigen vor, die den Erwägungen des Rates zugrunde lag.

Nach dieser Maßgabe stellt sich der Antrag insoweit als begründet dar, als vorläufig von der Verbringung der Antragsteller und der Antragstellerin nach Griechenland abzusehen ist. Eine Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zum Selbsteintritt gemäß § 3 Abs. 2 Dublin II-VO kann hingegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht angenommen werden.

Nach dem gegenwärtigen Sachstand haben die Antragsteller und die Antragstellerin unter Hinweis auf die vorgelegten Erkenntnisquellen glaubhaft dargetan, dass sie ohne weitere, im einzelnen nachfolgend aufgeführte Garantien seitens der griechischen Behörden mit der Abschiebung nach Griechenland ein menschenrechtswidriges und europäisches Recht verletzendes Verfahren befürchten müssen.

Griechenland hat bisher die Asylrichtlinien nicht in nationales Recht umgesetzt. Zur Zeit wird ein Präsidialerlass erarbeitet, mit dem die Aufnahmerichtlinie, die Verfahrensrichtlinie, die Qualifikationsrichtlinie und einige Bestimmungen der Familienzusammenführungsrichtlinie umgesetzt werden sollen. Es wird erwartet, dass der Erlass Mitte 2008 in Kraft tritt.

Der Europäische Gerichtshof hat bereits am 19. April 2007 Griechenland verurteilt (Rechtssache C-72/06 - ABl. C 96/16 v. 28.4.2007), weil es die Aufnahmerichtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 nicht umgesetzt hat. Ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren ist im Februar 2006 eingeleitet worden, was zur Änderung der Praxis der griechischen Behörden bei der Handhabung des Abbruchs der Asylverfahren geführt hat (UNHCR Positionspapier vom Juli 2007).

Was die behördliche Praxis anbelangt, erreicht Griechenland nach Auffassung von UNHCR bisher die Standards für die Aufnahmebedingungen, die nach der vorgenannten Richtlinie vorgegeben werden, nicht (Auskunft an VG Frankfurt/Main vom 10.01.2008). Zur Zeit habe Griechenland keine Kapazitäten, eine größere Anzahl von Asylsuchenden in Aufnahmezentren aufzunehmen, die vom Staat oder von nichtstaatlichen Akteuren geleitetet werden. Es stünden nicht genügend Plätze zur Unterbringung aller Asylsuchenden, die eine solche benötigen, zur Verfügung. Die Chancen für neu ankommende Asylsuchende, eine Unterkunft bereitgestellt zu bekommen, die den Standards der Aufnahmerichtlinie entspreche, seien daher extrem beschränkt. Der Leiter des griechischen Büros des UN-Flüchtlingshochkommissariats hat bereits die Schließung eines restlos überfüllten Flüchtlingslagers (Unterbringung von mehr als 390 Personen statt vorgesehener 120) auf der griechischen Insel Samos gefordert. Männer, Frauen und Kinder schliefen auf dem Boden, überall gebe es Mäuse, die Toiletten liefen über und jederzeit könnten Krankheiten wie Cholera ausbrechen. Im Übrigen gebe es in den überfüllten Auffanglagern keineswegs ausreichende Rechtsberatung, auch an Übersetzern mangele es (Bericht der BZ vom 29.01.2008; der NZZ vom 5.10.2007; dpa-Bericht vom 17.10.2007). Laut Pro Asyl (Bericht vom Oktober 2007 "The truth may be bitter, but it must be told") hat sich bereits im Juni 2007 eine Delegation des Europaparlaments über das Lager in Samos entsetzt gezeigt: "Generell lassen sich die Bedingungen als schmutzig, erbärmlich und unmenschlich beschreiben." Weiter führt Pro Asyl aus, die meisten der im ganzen Land vorhandenen 740 Unterkunftsplätze verfügten laut UNHCR nicht einmal über minimale Standards, auch sei der Zugang zu medizinischer Versorgung und Schulbildung nicht ausreichend gewährleistet. Als Folge des Mangels an Unterkünften und sozialer Versorgung blieben in Griechenland Asylsuchende auch während des laufenden Verfahrens vielfach obdachlos und ohne jede soziale Unterstützung. Wie die Frankfurter Rundschau berichtet (10.04.2008), hat das Athener Innenministerium eingeräumt, dass Griechenland einfach nicht genug Auffanglager für die wachsende Zahl der Asylsuchenden hat.

Den vorgenannten Berichten zufolge ist Griechenland mit der Unterbringung von Flüchtlingen und illegalen Migranten erheblich überfordert, so dass diese in Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen, teils ohne Wasser und ohne Toiletten leben. Zudem berichteten Hilfsorganisationen von schweren Misshandlungen.

Diesbezüglich hat auch Pro Asyl in seinem Bericht vom Oktober 2007, in dem es Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, der griechischen Küstenwache schwere Misshandlungen von Flüchtlingen vorgeworfen. Bei Besuchen in drei Abschiebelagern in der Ägäis hätten zahlreiche Insassen von Schlägen berichtet, andere seien von der Küstenwache auf unbewohnten Inseln ausgesetzt oder auf offener See ihrem Schicksal überlassen worden. Ein Flüchtling habe von einer Scheinhinrichtung berichtet; zuvor sei er auf der Insel Chios gefoltert worden.

Ferner berichtet Pro Asyl von Regelinhaftierungen - auch Minderjähriger. In der Haft sei es für die Insassen in der Regel nicht möglich, ihre Rechte wahrzunehmen. Sie würden nicht einmal über ihre Rechte informiert. Professionelle Dolmetscher gebe es nicht. Häufig werde den Inhaftierten tagelang der Hofgang verweigert. Auch bei der Entlassung würde die versäumte Information und Rechtshilfe nicht nachgeholt. Den Betroffenen werde ein Dokument in griechischer Sprache ausgehändigt, worin sie aufgefordert würden, das Land innerhalb von dreißig Tagen zu verlassen. Nach der Weiterreise nach Athen drohe häufig Obdachlosigkeit, und zwar auch dann, wenn Asylantrag gestellt werde. Zwar sollten Asylsuchende eine sog. "pink card" ausgestellt bekommen, dies geschehe jedoch häufig mit einer erheblichen Zeitverzögerung von einem Monat.

Vorwürfen der Anwaltskammer Thessaloniki zufolge herrschen skandalöse Zustände im griechischen Polizeigewahrsam: illegal Eingewanderte und andere Festgenommene, die eigentlich innerhalb 24 Stunden einem Richter vorgeführt werden müssten, verbrächten mitunter zwei Wochen und länger eingepfercht in winzigen, überfüllten und verschmutzten Zellen. Bis zu 30 Gefangene, unter ihnen Jugendliche, Mütter und Kinder hausten Tage lang auf nur 20 Quadratmetern - ohne Hofgang, ohne Waschmöglichkeiten, ohne medizinische Versorgung. Weiterhin kritisiert die Kammer, dass die Gefangenen keinen ungehinderten Zugang zu Anwälten hätten. Flüchtlingen würden zudem Erklärungen zur Unterschrift vorgelegt, in denen sie sich mit ihrer Abschiebung einverstanden erklärten (Bericht der FR vom 7.10.2007).

Betreffen auch die geschilderten katastrophalen und unmenschlichen Bedingungen in den Abschiebelagern, die behaupteten Misshandlungen durch die Küstenwache und wohl auch die Vorwürfe der Anwaltskammer die Bereiche an den griechischen Grenzen und insbesondere die Behandlung illegal eingereister Migranten, ist im Übrigen festzustellen, dass die griechische Verwaltungspraxis generell eine effektive Schutzgewährung häufig dadurch verhindert, dass sie den Zugang zu Asylverfahren erschwert bzw. nicht ermöglicht (betr. Registrierung, Rechtsbeistand, Dolmetscher, Information, Inhaftierung) und nur extrem beschränkte Aufnahmemöglichkeiten von Asylsuchenden bietet, die viele in menschenunwürdige Umstände treibt (überfüllte Unterkünfte, Obdachlosigkeit, mangelnde medizinische und soziale Versorgung).

Hinsichtlich der Registrierung von Asylanträgen führt UNHCR (Auskunft an VG Frankfurt/Main vom 10.01.2008) aus, nach ihm vorliegenden Informationen gebe es hier häufig Probleme. Als besonders schwierig stelle sich die Situation in Athen dar. Jeden Tag erschienen hier ca. 200 - 250 Personen bei der zentralen Abteilung zur Registrierung von Asylanträgen, um Asyl zu beantragen. Die Kapazität dieser Abteilung, die in 2006 und bis August 2007 95 % aller in Griechenland gestellten Asylanträge entgegengenommen habe, liege aber nur bei etwa 100 Personen täglich, so dass die effektive und zeitnahe Registrierung neu gestellter Asylanträge nicht immer garantiert sei. Generell könne gesagt werden, dass die griechischen Verwaltungsstrukturen für die Aufnahme Asylsuchender im letzten Jahr erheblich überlastet gewesen seien. Nach Schätzungen der Regierung gebe es im Moment 40000 unbearbeitete, noch nicht registrierte Asylanträge. Dies entspreche der Zahl der im Zeitraum von Januar 2004 bis Ende Juni 2007 gestellten Asylanträge.

Im Hinblick auf das angeblich bestehende Risiko der Inhaftierung von Personen am Flughafen, die gemäß der Dublin II-Verordnung nach Griechenland überstellt worden seien, sei zu sagen, dass solche Praktiken keine rechtliche Basis im griechischen Recht hätten, da die Einreise der betreffenden Personen nicht illegal erfolgt sei.

UNHCR sei kein Fall bekannt, in dem es zu einer solchen Inhaftierung gekommen sei.

Demgegenüber belegen die vorgelegten, für das Gericht glaubhaften Aufzeichnungen von Karl Kopp, Europareferent bei Pro Asyl vorn 8.02.2008 gerade, dass die Festnahmen nicht allein illegal eingereiste Flüchtlinge betreffen.

Der UNHCR (a.a.O.) verweist hinsichtlich der Praxis in anderen europäischen Staaten im Zusammenhang mit Rückführungen nach Griechenland auf (teils ober-) gerichtliche Entscheidungen in England, Belgien und den Niederlanden, in denen die Überstellung nach Griechenland untersagt wurde. Norwegen, das nicht der EU, aber dem Schengen-Abkommen angehört, entschied bereits im Februar diesen Jahres, keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland zurückzuschicken.

In Anbetracht der aktuell vorhandenen Mängel des griechischen Asylsystems empfiehlt UNHCR den EU-Mitgliedstaaten, im Rahmen von Rücküberstellungen nach Griechenland in Anwendung der Dublin II-Verordnung großzügig von dem ihnen gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen und mit Rückführungen sehr vorsichtig umzugehen, es sei denn, vor der Überstellung der betreffenden Person nach Griechenland sei durch spezielle Garantien im Einzelfall sichergestellt, dass die Person Zugang zu einem fairen Verfahren und angemessenen Aufnahmebedingungen erhalten werde.

Aus allem folgt, dass für den Antragsteller und die Antragstellerin ein fairer und effektiver Zugang zum Asylverfahren nicht gewährleistet ist. Vielmehr müssen sie mit den beschriebenen rechtserheblichen und irreversiblen Nachteilen (von einer Inhaftierung bis hin zur Obdachlosigkeit) rechnen. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als es sich bei den Antragstellern um Minderjährige handelt.

Die Ablehnung der Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt ergibt sich aus folgendem:

Als unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht kann die Verordnung ohne weiteres subjektive Rechte begründen. Nach Auffassung des Gerichts hat der Asylbewerber ein subjektives Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung auch bei dem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (GK-AsylVfG, Stand: Oktober 2007, § 27 a Rn. 135; Marx, AsylVfG, 6. Aufl., § 29 Rdnr. 51). Nach dieser sog. Souveränitätsklausel kann jeder Mitgliedstaat abweichend von den Zuständigkeitsregelungen einen von einem Drittstaatangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Das Ermessen ist grundsätzlich sehr weit, weil die Verordnung prinzipiell kein Recht auf Durchführung des Verfahrens im Wunschstaat kennt. Die Ermessensausübung kann aber durch nationales Verfassungsrecht (z.B. Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 2 GG im Falle einer behandlungsbedürftigen Krankheit) sowie Völkervertragsrecht (z.B. Art. 8 EMRK), die nicht durch die Verordnung verdrängt werden und selbst wieder subjektiv-rechtliche Relevanz haben, determiniert sein.

Dabei können zusätzlich die in Art. 15 Abs. 1 bis 3 Dublin II-VO zum Ausdruck kommenden Ermessensgesichtspunkte nutzbar gemacht werden. Sinn und Zweck des Selbsteintrittsrechts ist es gerade, die Verordnung in gewissem Umfang für derartige Rechtspositionen zu öffnen (GK-AsylVfG, a.a.O.). Nach Auffassung des Gerichts kommen auch die oben genannten Umstände, soweit sie den Asylsuchenden mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Überstellung treffen, als Ermessensgesichtspunkte in Betracht, soweit es um die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), den Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder elementarer Freiheitsrechte geht. In diesen Fällen kann eine Ermessensreduzierung dahingehend vorliegen, dass eine andere Entscheidung als der Selbsteintritt ermessensfehlerhaft wäre. Indes liegen diese Voraussetzungen im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor, da der Antragsgegnerin nach Auffassung des Gerichts die Möglichkeit eingeräumt werden muss, entsprechend der Empfehlung des UNHCR entsprechende Garantien einzuholen. Im Übrigen wäre es bei dieser Sachlage nicht zu rechtfertigen, mit der einstweiligen Anordnung die Hauptsache vorwegzunehmen.

Die vorliegend befristet erlassene einstweilige Anordnung soll der Antragsgegnerin die Möglichkeit einräumen, unter Berücksichtigung der vorgenannten Erwägungen von ihrem Ermessen dahingehend Gebrauch zu machen, dass sie sich gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO für zuständig erklärt. Sofern die Antragsgegnerin sich dazu nicht entschließt, hat sie andererseits die Möglichkeit, während des Anordnungszeitraums von den griechischen Behörden konkrete Garantien dazu einzuholen, dass bei einer Überstellung der Antragsteller und der Antragstellerin diesen umgehend eine Registrierung ihres Asylantrags sowie Informationen unter Hinzuziehung eines anerkannten Dolmetschers und Rechtsbeistand ermöglicht wird, diese in einer angemessenen Unterkunft ohne Haftcharakter untergebracht werden und im Bedarfsfall Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung besteht. Soweit entsprechende Garantien vorliegen, sieht das Gericht voraussichtlich die aufgezeigten drohenden Nachteile ausgeräumt.

Die Antragsteller und die Antragstellerin haben ihrerseits die Möglichkeit, im Fall, dass die Antragsgegnerin sich nicht zum Selbsteintritt entschließt, im Zusammenhang mit dem Ablauf des Anordnungszeitraums erneut eiligen Rechtsschutz zu beantragen.