VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 31.03.2008 - 4 A 2212/03 - asyl.net: M13168
https://www.asyl.net/rsdb/M13168
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Religion, religiöses Existenzminimum, religiös motivierte Verfolgung, Schutzbereitschaft
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

Die Klage, über die das Gericht trotz Ausbleibens des Klägers und der Beklagten, die mit der Ladung auf diese Folge hingewiesen worden sind, verhandelt und entschieden werden konnte (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.

Die Beigeladenen haben weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art. 16a GG (1.), noch liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) hinsichtlich der Türkei vor (2.)

1. Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht; sie werden nach Maßgabe der §§ 1 ff. AsylVfG als Asylberechtigte anerkannt.

Wegen ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit müssen die Beigeladenen keine Verfolgungsgefahr befürchten.

Nach Anhörung ihrer Eltern in der mündlichen Verhandlung bestehen zwar keine durchgreifenden Zweifel daran, dass es sich bei den Beigeladenen um Yeziden handelt, die ihrem Glauben auch verbunden sind. In Abkehr von ihrer früheren Rechtsprechung geht die Kammer nach Auswertung aller vorliegenden Erkenntnismittel in Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung u.a. des Nds. Oberverwaltungsgerichts (z.B. Urteile vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - und vom 26. November 2007 - 11 LB 15/06 - ) jedoch davon aus, dass auch glaubensgebundene Yeziden in ihren Hauptsiedlungegebieten im Südosten der Türkei keiner Gruppenverfolgung durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit mehr ausgesetzt und Rückkehrer derzeit vor politischer Verfolgung sogar hinreichend sicher sind.

Dass sich die Situation für Yeziden in der Türkei im Vergleich zu den Jahren zwischen 1980 und 2000 beruhigt hat, ist letztlich unstreitig. In seiner Stellungnahme zur Situation der Yeziden in der Türkei vom 4. Juli 2006 führt das Yezidische Forum 11 konkret bezeichnete Fälle aus den Jahren 2002 bis 2006 auf, in denen Yeziden wegen ihrer Religion Übergriffen ausgesetzt gewesen sein sollen. Ob die jeweiligen Vorfälle tatsächlich in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, insbesondere an die yezidische Religionszugehörigkeit erfolgten, oder aber ihre Ursache in Auseinandersetzungen über Eigentums- und Besitzfragen hatten oder es sich um kriminelles Unrecht handelte, ist jedoch umstritten. Letztlich bedarf es keiner endgültigen Klärung der Frage, aus welchen Gründen es zu den berichteten Ereignissen gekommen ist, denn selbst wenn alle vom Yezidischen Forum in seiner Stellungnahme vom 4. Juli 2007 konkret bezeichneten Vorfälle, die sich in einer Zeitspanne von ca. vier Jahren ereignet haben, als asylrelevant anzusehen wären, fehlte es an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte. Derart dicht und eng gestreute Verfolgungsschläge gegen Yeziden, aufgrund derer davon ausgegangen werden müsste, jedes Gruppenmitglied werde alsbald in eigener Person betroffen werden, sind nicht festzustellen. Übergriffe gegen Yeziden in jüngster Zeit sind nicht bekannt geworden. Hätten sich solche zugetragen, so wäre hiervon nach Überzeugung der Kammer im Hinblick auf die Beobachtungstätigkeit der zahlreichen in der Türkei tätigen Menschenrechtsorganisationen, denen solche Geschehnisse nicht verborgen geblieben wären, und des Umstandes, dass auch die verschiedenen Yezidenorganisationen im Ausland eine erhebliches Interesse an der Veröffentlichung solcher Vorfälle haben dürften, auch berichtet worden (vgl. auch Nds. OVG, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 -). Hinzu kommt, dass der türkische Staat im Rahmen seines Bestrebens, die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die Europäische Union gerade auch in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte zu erfüllen, zunehmend bereit und der Lage ist, Yeziden gegen Übergriffe Dritter zu schützen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass nicht-staatlichen Repressionsmaßnahmen Vorschub geleistet oder solche toleriert werden (vgl. im Einzelnen Nds. OVG, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 -).

Ob sich die Situation ändern würde, wenn eine Vielzahl von derzeit im Ausland lebenden Yeziden in die Türkei zurückkehren sollten, braucht die Kammer nicht zu entscheiden, weil die hier zu treffende Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG allein an der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auszurichten ist. Die bloße Möglichkeit, dass sich die politischen Verhältnisse in weiterer Zukunft verändern könnten und dann vielleicht für den Asylsuchenden die Gefahr politischer Verfolgung besteht, vermag einen Asylanspruch nicht zu begründen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 27. April 1982 - 9 C 308.81 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27 und 37). Insoweit ändern auch die in der Türkei in Teilbereichen zu beobachtenden Tendenzen einer zunehmenden Islamisierung nichts an der getroffenen Verfolgungsprognose.

Weiterhin ist nicht festzustellen, dass Yeziden in der Türkei bei ihrer Religionsausübung unzumutbar behindert werden. Anhaltspunkte dafür, dass das Existenzminimum im privaten Bereich durch Muslime nachhaltig beeinträchtigt wird, liegen nicht vor. Zwar ist durch Art. 10 Abs. 1 b der sog. Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004) der Schutz vor religiöser Verfolgung auch auf die öffentliche Glaubensbetätigung ausgedehnt worden. Nach Auffassung der Kammer schützt die Qualifikationsrichtlinie allerdings nicht jedwede denkbare öffentliche Religionsausübung, sondern lediglich diese als solche. Dafür, dass es den Yeziden in der Türkei grundsätzlich nicht möglich ist, ihre Religion in der Öffentlichkeit auszuüben, ist nichts ersichtlich. So finden dort z.B. relativ häufig Beerdigungen von in Deutschland verstorbenen Yeziden statt, an denen regelmäßig auch andere, z.T. mitreisende Personen teilnehmen (vgl. nur Yezidisches Forum, Stellungnahme zur Situation der Yeziden in der Türkei vom 4. Juli 2006). Von Verhinderungen oder Störungen der Beerdigungszeremonien durch Moslems ist nichts bekannt geworden. Überdies zeichnet sich die yezidische Religion gerade dadurch aus, dass sie vom Wesen her eine Art "Geheimreligion" ist und nicht vor den Augen Ungläubiger und damit nicht im öffentlichen Bereich praktiziert wird (Nds. OVG, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 -). Die Kritik des Yezidischen Forums in seiner Anmerkung zum Urteil des Nds. Oberverwaltungsgerichts vom 17. Juli 2007, dass der verstorbene Gutachter Prof. Dr. Dr. Wießner den Begriff Geheimreligion und das Recht, die Religion dem Umfeld zu verschweigen, mit den Verhältnissen in der Türkei und anderen Ländern des nahen Ostens begründet habe, die Yeziden aber unter anderen Verhältnissen, wie sie z.B. in der Bundesrepublik Deutschland herrschten, die Möglichkeit der offenen und öffentlichen Religionsausübung und des freien Bekenntnisses als die eigentliche Befreiung ansähen, greift nicht durch. Hiermit hat sich das Verwaltungsgericht Hannover in seinem Urteil vom 19. Dezember 2007 - 1 A 3097/06, 1 A 3101/06, 1 A 3102/06, 1 A 3103/06 - ausführlich auseinandergesetzt.

Eine asylerhebliche Verletzung der Religionsausübung der Yeziden im Südosten der Türkei liegt auch nicht darin, dass dort nur noch wenige Sheiks bzw. Pirs leben. Zwar kommt der religiösen Betreuung durch Angehöriger der yezidischen Priesterstämme für ein funktionierendes Gemeindeleben der Yeziden eine erhebliche Bedeutung zu. Nicht jede Beeinträchtigung eines funktionierenden Gemeindelebens führt jedoch bereits zu einer Verletzung des religiösen Existenzminimums. Eine solche liegt erst dann vor, wenn die Religionsausübung in ihrem unverzichtbaren Kern durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe unmöglich gemacht wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 - 1 C 9/03 -, BVerwGE 120, 16 ff.). Der Heimatstaat ist nicht zur Gewährleistung einer bestimmten religiösen Infrastruktur verpflichtet. Das Fehlen von Angehörigen der yezidischen Priesterstämme beruht nicht auf staatlichen oder dem Staat zurechenbaren Eingriffen, sondern ist die tatsächliche Folge der vergleichsweise geringen Zahl der in der Türkei lebenden Yeziden (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 -, OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14. Februar 2006 - 15 A 2119/02.A -). Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass in den letzten Jahren Angehörige der yezidischen Priesterstände aus Deutschland in die Türkei gereist sind, um dort an Beerdigungen teilzunehmen/diese vorzunehmen, bzw. um dort lebende Yeziden zu betreuen.

2. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich zugleich, dass auch die Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen.