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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 06.05.2008 - C-133/06 - asyl.net: M13178
https://www.asyl.net/rsdb/M13178
Leitsatz:

Die Regelungen der Richtlinie 2005/85 ("Verfahrensrichtlinie"), die es dem Rat erlauben, mit qualifizierter Mehrheit eine Listen sicherer Herkunfts- oder Drittstaaten aufzustellen, sind nichtig, da sie die Beteiligungsrechte des Parlaments verletzen.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, sichere Herkunftsstaaten, sichere Drittstaaten, EuGH, Verfahrensrichtlinie, Nichtigkeit, Europäisches Parlament, Ministerrat, Mitentscheidungsverfahren, Anhörung
Normen: RL 2005/85/EG Art. 29 Abs. 1; RL 2005/85/EG Art. 29 Abs. 2; RL 2005/85/EG Art. 36 Abs. 3; EG Art. 7 Abs. 1; EG Art. 67 Abs. 1; EG Art. 202
Auszüge:

Die Regelungen der Richtlinie 2005/85 ("Verfahrensrichtlinie"), die es dem Rat erlauben, mit qualifizierter Mehrheit eine Listen sicherer Herkunfts- oder Drittstaaten aufzustellen, sind nichtig, da sie die Beteiligungsrechte des Parlaments verletzen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1 Das Europäische Parlament begehrt mit seiner Klage die Nichtigerklärung von Art. 29 Abs. 1 und 2 und Art. 36 Abs. 3 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13) (im Folgenden: angefochtene Bestimmungen) oder, hilfsweise, die Nichtigerklärung der gesamten Richtlinie.

43 Mit seinen ersten beiden Klagegründen wirft das Parlament im Wesentlichen die Frage auf, ob der Rat berechtigt war, in den angefochtenen Bestimmungen vorzusehen, dass die Listen sicherer Staaten auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit erstellt und geändert werden.

44 Gemäß Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 2 EG darf jedes Organ nur nach Maßgabe der ihm im EG-Vertrag zugewiesenen Befugnisse handeln (vgl. Urteil vom 23. Oktober 2007, C-403/05, Parlament/Kommission, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45 Erstens hatte der Rat beim Erlass der Richtlinie 2005/85 nach den in Art. 67 Abs. 1 EG vorgesehenen Modalitäten die Möglichkeit, gestützt auf Art. 202 dritter Gedankenstrich EG Vorschriften zu erlassen, die für den zu regelnden Bereich nicht wesentlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 1992, Deutschland/Kommission, C-240/90, Slg. 1992, I-5383, Randnr. 36).

46 Somit hätte er sich – unterstellt, die Listen sicherer Staaten seien derartige nicht wesentliche Vorschriften und beträfen einen spezifischen Fall – vorbehalten können, Durchführungsbefugnisse selbst auszuüben, wobei er diese Entscheidung ausführlich hätte begründen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Januar 2005, Kommission/Rat, C-257/01, Slg. 2005, I-345, Randnr. 50).

47 Der Rat muss nämlich anhand der Natur und des Inhalts des umzusetzenden Basisrechtsakts eine ordnungsgemäße Begründung für eine Ausnahme von der Regel geben, dass es im System des Vertrags, wenn auf Gemeinschaftsebene Maßnahmen zur Durchführung eines Basisrechtsakts zu treffen sind, Aufgabe der Kommission ist, diese Befugnis auszuüben (Urteil Kommission/Rat, Randnr. 51).

48 Im vorliegenden Fall hat der Rat ausdrücklich im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 auf die politische Tragweite der Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten und im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie auf die möglichen Folgen des Konzepts des sicheren Drittstaats Bezug genommen.

49 Die in diesen Erwägungsgründen angeführten Gründe sollen jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 21 seiner Schlussanträge festgestellt hat, die Anhörung des Parlaments zur Erstellung und Änderung der Listen sicherer Staaten rechtfertigen und nicht der hinreichenden Begründung eines Durchführungsvorbehalts mit spezifischem Charakter für den Rat dienen.

50 Darüber hinaus macht der Rat im vorliegenden Fall, der eine Richtlinie betrifft, deren angefochtene Bestimmungen ihm eine zeitlich nicht begrenzte Befugnis einräumen, nicht geltend, dass diese Bestimmungen dahin umzuqualifizieren seien, dass es sich um Bestimmungen handele, auf deren Grundlage er sich vorbehalten habe, spezifische Durchführungsbefugnisse unmittelbar auszuüben. Vielmehr hat er in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass diese Bestimmungen ihm eine abgeleitete Rechtsetzungsbefugnis einräumten.

51 Die Frage einer möglichen Umqualifizierung der angefochtenen Bestimmungen, um davon ausgehen zu können, dass der Rat Art. 202 dritter Gedankenstrich EG angewendet hat, stellt sich unter diesen Umständen nicht.

52 Zweitens ist festzustellen, dass im Rahmen der Anwendung von Art. 67 EG die Maßnahmen, die in den in Art. 63 Nrn. 1 und 2 Buchst. a EG genannten Bereichen zu beschließen sind, nach zwei verschiedenen in Art. 67 EG vorgesehenen Verfahren erlassen werden, nämlich entweder durch einstimmigen Beschluss nach Anhörung des Parlaments oder im Mitentscheidungsverfahren.

53 Die angefochtenen Bestimmungen errichten ein Verfahren zum Erlass der genannten Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments; ein solches Verfahren unterscheidet sich von den in Art. 67 EG vorgesehenen Verfahren.

54 Es ist aber bereits entschieden worden, dass die Grundsätze über die Willensbildung der Gemeinschaftsorgane im Vertrag festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen (vgl. Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, Randnr. 38).

55 Allein der Vertrag kann in besonderen Fällen wie dem in Art. 67 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich EG vorgesehenen ein Organ dazu ermächtigen, ein von ihm geschaffenes Entscheidungsverfahren zu ändern.

56 Würde einem Organ die Möglichkeit zur Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen gegeben, sei es im Sinne einer Verschärfung oder einer Erleichterung der Modalitäten des Erlasses eines Rechtsakts, so liefe dies darauf hinaus, ihm eine Rechtsetzungsbefugnis zu verleihen, die über das im Vertrag vorgesehene Maß hinausginge.

57 Ihm würde damit auch erlaubt, gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts zu verstoßen, der gebietet, dass jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt (Urteil vom 22. Mai 1990, Parlament/Rat, C-70/88, Slg. 1990, I-2041, Randnr. 22).

58 Der Rat kann nicht mit Erfolg geltend machen, dass das in den angefochtenen Bestimmungen vorgesehene Erlassverfahren dem Mitentscheidungsverfahren nicht zuwiderlaufe, weil die Listen sicherer Staaten nicht auf der Grundlage des Art. 63 EG, sondern auf der Grundlage der angefochtenen Bestimmungen erstellt worden seien, die ein einfacheres Verfahren als das vorsähen, nach dem der Basisrechtsakt erlassen worden sei. Eine solche Argumentation liefe nämlich darauf hinaus, Bestimmungen des abgeleiteten Rechts Vorrang vor Bestimmungen des Primärrechts einzuräumen, vorliegend vor Art. 67 EG, dessen Abs. 1 und 5 nacheinander unter Beachtung ihrer jeweiligen Voraussetzungen anzuwenden sind.

59 Der Erlass abgeleiteter Rechtsgrundlagen kann auch nicht mit Erwägungen gerechtfertigt werden, die an die politische Sensibilität des betreffenden Bereichs oder an das Streben nach Sicherstellung der Wirksamkeit eines Gemeinschaftshandelns anknüpfen.

60 Im Übrigen kann auch das Bestehen einer früheren Praxis in Form der Schaffung abgeleiteter Rechtsgrundlagen nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Selbst wenn man die Existenz einer solchen Praxis unterstellt, vermag sie nämlich Regeln des Vertrags nicht abzuändern und kann folglich kein Präjudiz schaffen, das die Organe bindet (vgl. in diesem Sinne Urteil Vereinigtes Königreich/Rat, Randnr. 24, und Urteil vom 9. November 1995, Deutschland/Rat, C-426/93, Slg. 1995, I-3723, Randnr. 21).

61 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Rat dadurch, dass er die abgeleiteten Rechtsgrundlagen in Form der angefochtenen Bestimmungen in die Richtlinie 2005/85 eingefügt hat, gegen Art. 67 EG verstoßen und somit seine ihm durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschritten hat.

62 Hinzuzufügen ist in Bezug auf die zukünftige Erstellung von Listen sicherer Staaten und ihre Änderungen, dass es Sache des Rates ist, dies unter Beachtung der im Vertrag vorgesehenen Verfahren vorzunehmen.

64 In Bezug auf das Verfahren zur Zuerkennung oder Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft in den Mitgliedstaaten beschränkt sich Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. d EG darauf, den Erlass von "Mindestnormen" vorzusehen.

65 Wie aus den Randnrn. 10 bis 17 des vorliegenden Urteils hervorgeht, legt die Richtlinie 2005/85 detaillierte Kriterien fest, die die spätere Erstellung von Listen sicherer Staaten erlauben.

66 Daher ist davon auszugehen, dass der Rat mit diesem Rechtsetzungsakt "Gemeinschaftsvorschriften …, in denen die gemeinsamen Regeln und wesentlichen Grundsätze festgelegt sind", im Sinne von Art. 67 Abs. 5 EG erlassen hat, so dass das Mitentscheidungsverfahren anzuwenden ist.

67 Nach alledem greifen die ersten beiden vom Parlament zur Stützung seiner Nichtigkeitsklage vorgebrachten Gründe durch. Folglich sind die angefochtenen Bestimmungen für nichtig zu erklären. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Art. 29 Abs. 1 und 2 und Art. 36 Abs. 3 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft werden für nichtig erklärt.