VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 22.04.2008 - A 8 K 5626/07 - asyl.net: M13184
https://www.asyl.net/rsdb/M13184
Leitsatz:

Der Ausschluss des Widerrufs wegen zwingenden, auf früherer Verfolgung beruhenden Gründen gem. § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG wegen einer psychischen Erkrankung in Folge von Verfolgungshandlungen setzt nicht voraus, dass sich der Flüchtling in medizinischer Behandlung befindet.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, zwingende Gründe, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Übergriffe, Kurden, Misshandlungen, Glaubwürdigkeit, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Ausschluss des Widerrufs wegen zwingenden, auf früherer Verfolgung beruhenden Gründen gem. § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG wegen einer psychischen Erkrankung in Folge von Verfolgungshandlungen setzt nicht voraus, dass sich der Flüchtling in medizinischer Behandlung befindet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15.10.2007, mit dem die Asylanerkennung der Klägerin und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, widerrufen worden ist und festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Ob im Falle der Klägerin die Widerrufsvoraussetzungen des § 73 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AsylVfG gegeben sind, kann hier dahin stehen. Denn jedenfalls erwiese sich der Widerruf gegenüber der Klägerin auf Grund der Vorbehaltsregelung in § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG als fehlerhaft. Diese Regelung, die Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 und Nr. 6 Satz 2 der Genfer Konvention entspricht, ist eine zwingende Vorschrift, durch die die gesetzliche Pflicht zum Widerruf durchbrochen wird. Das Fehlen einer zumutbaren Rückkehrmöglichkeit schließt den Widerruf aus. Dabei obliegt es dem Ausländer, sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe zu berufen. Er hat daher sämtliche Gesichtspunkte darzulegen, aus denen sich die Unzumutbarkeit der Rückkehr ergibt (vgl. Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, § 73 AsylVfG, Rdnr. 28). Die Art der die Rückkehrverweigerung rechtfertigenden Gründe ist durch eine Gegenüberstellung mit den die Widerrufsmöglichkeit generell eröffnenden Gründen zu ermitteln. Es geht um die Fernwirkung früherer Verfolgungsmaßnahmen, die abgeschlossen sind und nicht in der Weise nachwirken, dass sie eine fortdauernde Verfolgungsgefahr auch in der Zukunft ergeben. Deshalb ist die Regelung in § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG auf Fälle beschränkt, in denen einerseits trotz Vorverfolgung infolge zwischenzeitlich vorauszusehender hinreichender Sicherheit vor erneuter Verfolgung die Grundlagen der Erstentscheidung entfallen sind, in denen aber andererseits die Schwere der Vorverfolgung und die dabei verursachten Beeinträchtigungen trotz Änderung der Verhältnisse und Zeitablaufs eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen. Damit wird den besonderen Belastungen schwer Verfolgter Rechnung getragen. Wirkt die Verfolgung etwa in einer feindlichen Haltung der Bevölkerung nach oder hat sie bleibende psychische Schäden verursacht, kann die Rückkehr unzumutbar sein. Nicht gleich zu achten wäre es dagegen, wenn auf Grund der Verfolgung und des darauf beruhenden Auslandsaufenthaltes u.a. die familiären und wirtschaftlichen Lebensbedingungen irr Heimatland verloren gegangen sind; der Wiederaufbau einer wirtschaftlichen Existenz ist nicht von vorne herein unzumutbar (vgl. Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 7. Aufl., § 73 AsylVfG, Rdnr. 11 u. 13). Die Klägerin hat sich auf qualifizierte Gründe berufen, die ihre Rückkehr in die Türkei objektiv unzumutbar erscheinen lassen; dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung ihrer subjektiven Sichtweise (vgl. zu diesem Kriterium Renner, a.a.O., Rdnr. 10; Hailbronner, a.a.O., Rdnr. 32).

Aus welchen Gründen im Einzelnen das Bundesamt die Klägerin damals als Asylberechtigte anerkannt hat, lässt sich seinem Bescheid vom 13.04.1995 nicht ohne weiteres entnehmen. Es hat insoweit zur Begründung lediglich ausgeführt, dass auf Grund des von der Klägerin geschilderten Sachverhaltes davon auszugehen sei, dass sie im Falle ihrer Rückkehr in den Herkunftsstaat zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit asylrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen rechnen müsse und sie sich mithin aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Herkunftsstaates aufhalte. Unter Berücksichtigung der damaligen Angaben der Klägerin, die das Bundesamt seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat, ging es damit aber offenbar davon aus, dass die Klägerin vor ihrer Ausreise asylrechtlich relevanten Übergriffen seitens der türkischen Sicherheitskräfte ausgesetzt war, die darauf beruhten, dass ihr Ehemann die PKK unterstützt hatte und deshalb drei Jahre vor ihrer Ausreise erschossen worden war. Die Klägerin hatte insoweit davon berichtet, dass sie unterdrückt, geschlagen, erniedrigt und beschimpft worden war und man ihr vorgeworfen hatte, das Gleiche zu tun, wie ihr Mann. Weiterhin muss das Bundesamt davon ausgegangen sein, dass die Klägerin bei einer Rückkehr vor weiteren derartigen - asylrechtsrelevanten - Übergriffen nicht hinreichend sicher war.

Selbst wenn unterstellt würde, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in die Türkei zum heutigen Zeitpunkt derartigen asylrechterelevanten Maßnahmen nicht mehr ausgesetzt wäre, so ist auf Grund ihres Vortrags und der vorgelegten nervenärztlichen Bescheinigung vom 08.04.2008 davon auszugehen, dass die Erlebnisse und Übergriffe, die sie vor ihrer Ausreise aus der Türkei nach damaliger Auffassung des Bundesamts erleiden musste, zu bleibenden psychischen Schaden geführt haben, die fortwirken und eine Rückkehr in die Türkei unzumutbar machen. Der Kläger-Vertreter hat bereits in seinem Schriftsatz vom 05.09.2007 an das Bundesamt geltend gemacht, dass es der Klägerin nach den Angaben ihrer Familie und der sie unterstützenden Personen vom Asylkreis Crailsheim gesundheitlich noch nie gut gegangen sei und dass es ihr seit dem Widerruf sehr schlecht gehe. Dr. ... geht in seiner nervenärztlichen Bestätigung vom 08.04.2008 davon aus, dass bei der Klägerin eine ausgeprägte Posttraumatischen Belastungsstörung vorliegt - reaktiv zu den Ereignissen in der Türkei wie Tötung des Ehemannes und Misshandlungen. Insbesondere auch auf Grund des von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks hält das Gericht die geltend gemachten und diagnostizierten bleibenden psychischen Schäden auf Grund der Schwere der erlittenen Vorverfolgung für glaubhaft. Dass sich die Klägerin wegen ihrer psychischen Probleme vor Einleitung des Widerrufsverfahrens nicht in ärztlicher Behandlung befand, steht den nicht entgegen. Frau ... vom Arbeitskreis Asyl hat nachvollziehbar dargelegt, dass die Klägerin ärztliche Hilfe zuvor nicht in Anspruch genommen hatte, da zuerst alles für die Familie geregelt werden musste, man zunächst nicht wusste, an wen man sich wenden sollte und dass sich die Klägerin sodann sozial zurückgezogen hat. Die verstärkt auftretenden Ängste einschließlich der Folgeerscheinungen sind in Anbetracht einer drohenden Rückkehr ins Heimatland nach der allgemeinen Lebenserfahrung bei einer Vorverfolgung, wie sie die Klägerin erlitten hat, aber durchaus nachvollziehbar. Der Auffassung des Beklagtenvertreters, dass aus der fehlenden Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe vor Einleitung des Widerrufsverfahrens geschlossen werden könne, dass die jetzigen psychischen Probleme nicht auf früher erlittener Verfolgung beruhen, vermag das Gericht deshalb nicht zu folgen. Die Klägerin hat damit aber glaubhaft gemacht, dass sie ein besonders nachhaltig wirkendes Verfolgungsschicksal erlitten hat und es ihr deshalb selbst lange Jahre danach ungeachtet der möglicherweise veränderten Verhältnisse nicht zumutbar ist, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren.