VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 26.03.2008 - 1 A 2801/05 - asyl.net: M13337
https://www.asyl.net/rsdb/M13337
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Änderung der Sachlage, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, PKK, Unterstützung, Personenstandsregister, Suchvermerk
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG geltenden materiellen Voraussetzungen für den Widerruf der Asylanerkennung des Klägers und der Feststellung der Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 AusIG liegen jedoch nicht vor.

Ob der Kläger bei einer - asylrechtlich unterstellten - Rückkehr in die Türkei im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG Schutz vor Verfolgung fände, beurteilt sich nach dem sog. herabgestuften Prognosemaßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit. Dieser Maßstab ist hier im Hinblick auf den Bescheid vom 27.03.1992 zugrunde zu legen. Danach hat der Kläger sein Heimatland aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen. Der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit wäre nur dann anzuwenden, wenn dem Betroffenen keine Wiederholung der früheren Verfolgung droht, er stattdessen eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung geltend macht, die in keinem Zusammenhang mit der früheren Verfolgung steht (ständige Rechtsprechung des BVerwG, vgl. u.a. den Beschluss vom 24.05.2006 -1 B 128/05 -, Rdnr. 6, m.w.N., juris, das Urteil vom 18.07.2006 -1 C 15.05 -, Rdnr. 16, juris, und das Urteil vom 12.06.2007 -10 C 24.07 -, Rdnr. 25, juris; vgl. auch Nds. OVG, Urteil vom 17.07.2007 -11 LB 332/03 -f Rdnr. 45, juris). Das ist hier nicht der Fall. Der Kläger macht geltend, die von der Beklagten behauptete strukturelle Änderung der politischen Verhältnisse in der Türkei sei nicht eingetreten. Die Beklagte verkenne, dass sich am Wesen des türkischen Staatssystems (Staat im Staate) nichts geändert habe. Die Türkei sei ein zweigesichtiger Staat. Die gesetzlichen Änderungen in der Türkei lieferten keinen Grund, die auf die Realität bezogene Prognose zu ändern.

Im Hinblick auf die aktuelle Auskunftslage zur Türkei kann gegenwärtig nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich die Menschenrechtslage in der Türkei nachhaltig verändert und verfestigt hat, so dass ein "Wegfall der Umstände", die zur Anerkennung als Asylberechtigter und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, im Sinne des Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 Genfer Konvention bzw. des § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG vorliegt.

Durch die Gesetzes- und Verfassungsänderungen der letzten Jahre sowie durch weitere Reformmaßnahmen konnten hinsichtlich der Menschenrechtslage in der Türkei zwar deutliche Fortschritte erzielt werden, die insbesondere die Rechte Inhaftierter gestärkt haben und der Eindämmung von Folter und Misshandlung dienen. Wegweisendes Ereignis ist der Beginn von Beitrittsverhandlungen der Europaischen Union mit der Türkei zum 03.10.2005. Der sich in großen Teilen der türkischen Gesellschaft vollziehende "Mentalitätswandel" hat jedoch noch nicht alle Teile der Polizei, Verwaltung und Justiz erfasst. Die AKP-Regierung der Türkei hat zwar alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt, Folter und Misshandlung im Rahmen einer "Null-Toleranz-Politik" zu unterbinden. Trotz dieser gesetzgeberischen Maßnahmen und trotz einiger Verbesserungen ist die Strafverfolgung von Foltertätern jedoch immer noch unbefriedigend. In tatsächlicher Hinsicht ist es der Regierung bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Die z.B. seit Januar 2004 geltenden Regelungen, dass außer auf Verlangen des Arztes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Häftlingen anwesend sein dürfen und das Untersuchungsergebnis direkt dem Staatsanwalt auszuhändigen ist, werden nicht durchgehend angewandt. Dies macht den Nachweis von Folter und Misshandlungen und damit die strafrechtliche Verfolgung der Täter schwierig. Außerdem liegen keine zuverlässigen Erkenntnisse darüber vor, in welchem Umfang es zu inoffiziellen Gewahrsamnahmen durch Zivilisten oder durch Sicherheitskräfte in Zivil mit Misshandlung oder Folter vor Antritt der Gewahrsamnahme kommt (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Lagebericht vom 25.10.2008, Bl. 5, 29 f.).

Soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf den vorgenannten Lagebericht vorträgt, die vom Kläger vertretene Theorie vom "Staat im Staat" nicht teilen zu können und gleichzeitig auf die Situation von aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter oder ehemaliger Asylbewerber eingeht, ist dem entgegenzuhalten, dass sich der Bericht zur Rückkehr von anerkannten Asylbewerbern, deren Anerkennung widerrufen worden ist, nicht verhält. Im Hinblick hierauf ist darauf zu verweisen, dass nach dem gen. Lagebericht (insbesondere abgeschobene) Personen einer Routinekontrolle unterzogen werden, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Besteht der Verdacht einer Straftat, was im vorliegenden Fall hinsichtlich des ursprünglichen Vortrags des Klägers zu seinen politischen Aktivitäten für die PKK nicht auszuschließen ist, werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Hierbei ist ferner von Gewicht, dass nach Angaben türkischer Behörden entsprechend dem Runderlass des türkischen Innenministeriums vom 18.12.2004 ab Mitte Februar 2005 alle bestehenden Suchvermerke in den Personenstandsregistern gelöscht worden seien. Es bestehe für das Auswärtige Amt deshalb keine Möglichkeit mehr, das Bestehen von Suchvermerken zu verifizieren, auch nicht über die bisher damit befassten Vertrauensanwälte (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.2008, Bl. 38). Im Hinblick auf die mangelnde Gewähr der tatsächlichen Umsetzung von Gesetzen und Vorschriften in der Türkei kann nach Auffassung des Gerichts nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass für den Kläger (auch) nach dem langen Zeitraum nach seiner Ausreise aus der Türkei im Jahr 1992 weiterhin ein Suchvermerk im Personenstandsregister seines Heimatortes besteht und ihm infolgedessen nach einer Rückkehr in die Türkei politische Verfolgung droht.