VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 23.06.2008 - A 3 K 1412/08 - asyl.net: M13468
https://www.asyl.net/rsdb/M13468
Leitsatz:

Aussetzung der Überstellung im Dublin-Verfahren nach Griechenland wegen Verletzung europarechtlicher Vorgaben für das Asylverfahren (im Anschluss an VG Gießen, Beschluss vom 25.4.2008 - 2 L 201/08 - ASYLMAGAZIN 5/2008, S. 11).

 

Schlagwörter: Verordnung Dublin II, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, vorbeugender Rechtsschutz, Vorwegnahme der Hauptsache, Griechenland (A), Abschiebungsanordnung, Verfassungsmäßigkeit, Drittstaatenregelung, Genfer Flüchtlingskonvention, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Verfahrensrichtlinie, Aufnahmebedingungen, Verfahrensrecht, Flüchtlingslager, Unterbringung, Inhaftierung, Minderjährige, Selbsteintrittsrecht, Ermessen, humanitäre Klausel, Familienangehörige, Bruder
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AsylVfG § 27a; AsylVfG § 34a Abs. 1; AsylVfG § 34a Abs. 2; VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2; VO Nr. 343/2003 Art. 15 Abs. 1
Auszüge:

Aussetzung der Überstellung im Dublin-Verfahren nach Griechenland wegen Verletzung europarechtlicher Vorgaben für das Asylverfahren (im Anschluss an VG Gießen, Beschluss vom 25.4.2008 - 2 L 201/08 - ASYLMAGAZIN 5/2008, S. 11).

(Leitsatz der Redaktion)

Sein Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Maßnahmen zum Vollzug seiner Verbringung nach Griechenland vorläufig für die Dauer von sechs Monaten auszusetzen, dem die Antragsgegnerin unter Vorlage ihrer Akten entgegengetreten ist, ist als Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zulässig.

Insbesondere steht dem Antragsteller, soweit er den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt, ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite. Zwar ist eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG noch nicht ergangen. Andererseits hat die Antragsgegnerin bislang von dem bereits eingeleiteten Rückübernahmeverfahren noch nicht Abstand genommen, und es ist dem Antragsteller auch nicht zuzumuten, mit einer Antragstellung zuzuwarten, bis eine Anordnung ergangen ist, da nach der Behördenpraxis - Abschiebung noch am gleichen Tage - die Inanspruchnahme effektiven Rechtsschutzes i. S. von Art. 19 Abs. 4 GG sonst unzumutbar erschwert wäre.

Auch § 34a Abs. 2 AsylVfG, wonach die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden darf, steht ausnahmsweise einer gerichtlichen Eilentscheidung nicht entgegen.

In verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung kommt die vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Drittstaatenregelung (Urt. v. 14. Mai 1996 (2 BvR 1938/93, BVerfGE 94, 49)) ist die Vorschrift des § 34a AsylVfG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen in den sicheren Drittstaat nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen nach den allgemeinen Regeln möglich bleibt. Davon ausgehend, dass es sich bei den Mitgliedstaaten der Europäischen Union um sichere Drittstaaten i.S.d. Art. 16a Abs. 2 GG bzw. § 26a AsylVfG handelt, ist zwar aufgrund des diesen Vorschriften zugrunde liegenden normativen Vergewisserungskonzepts davon auszugehen, dass dort die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt ist. Zudem beruht die Dublin II-VO wie jede auf Art. 63 Satz 1 Nr. 1 EG-Vertrag gestützte gemeinschaftsrechtliche Maßnahme auf der Prämisse, dass die zuverlässige Einhaltung der GFK sowie der EMRK in allen Mitgliedstaaten gesichert ist (vgl. Begründungserwägung Nr. 2 und 12 der Dublin II-VO und Art. 6 Abs. 2 sowie Art. 63 Abs. 1 Nr. 1 lit. a EGV). Eine Prüfung, ob der Zurückweisung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer danach jedoch dann erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist, wobei an die Darlegung eines Sonderfalles strenge Anforderungen zu stellen sind (BVerfG, a.a.O.).

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Der Antragsteller einen solchen Sonderfall glaubhaft gemacht. Er hat unter Berufung auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen (Beschl. v. 25. April 2008 - 2 L 201/08.GI.A -, <juris>) sowie das Positionspapier des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen - UNHCR - zur Überstellung von Asylsuchenden nach der "Dublin-II-Verordnung" vom 15. April 2008 im Einzelnen dargelegt, ohne dass die Antragsgegnerin dem bislang inhaltlich widersprochen hätte, dass ihm im Falle der Abschiebung nach Griechenland dort ein menschenrechtswidriges und europäisches Recht verletzendes Verfahren droht und ihm dort kein asylrechtliches Prüfungsverfahren offen steht, welches die Mindestnormen der Richtlinien 2005/85/EG vom 1. Dezember 2005 sowie 2003/9/EG vom 27. Januar 2003 einhält. Das VG Gießen (a.a.O.) ist dem gefolgt und hat in den Gründen des o.g. Beschlusses im einzelnen u.a. ausgeführt: ...

Das beschließende Gericht macht sich die o.g. Ausführungen zu eigen und hält es nach alledem für hinreichend glaubhaft gemacht, dass dem Antragsteller mit der Abschiebung nach Griechenland ein menschenrechtswidriges und europäisches Recht verletzendes Verfahren befürchten muss, solange die griechische Regierung nicht konkret auf den vorliegenden Fall bezogen garantiert, dass bei einer Überstellung des Antragstellers diesem umgehend eine Registrierung seines Asylantrags sowie Informationen unter Hinzuziehung eines anerkannten Dolmetschers und Rechtsbeistand ermöglicht wird, er in einer angemessenen Unterkunft ohne Haftcharakter untergebracht wird und im Bedarfsfall Zugang zu medizinischer und sozialer Versorgung besteht. Durch die vorliegend befristet erlassene einstweilige Anordnung erhält die Antragsgegnerin die Möglichkeit, entweder die genannten Garantien bezüglich des Klägers beizubringen (vgl. hierzu auch BVerfG a.a.O. C III 2 a cc, wonach es auch sonst naheliege, "dass die deutschen Behörden vor einer Zurückweisung oder Rückverbringung des Ausländers in den Drittstaat mit den dort zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen, den Sachverhalt klären und gegebenenfalls zum Schutz des Ausländers Vorkehrungen treffen"), oder aber von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen. Bezüglich der letzteren Möglichkeit verweist das Gericht darauf, dass der Antragsteller einen in Deutschland lebenden Bruder hat und damit wohl auch der Annahme des Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine humanitäre Übernahme nach Art. 15 Abs. 1 Dublin II-VO nichts entgegenstehen dürfte.