LSG Bayern

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Zitieren als:
LSG Bayern, Beschluss vom 12.03.2008 - L 7 B 1104/07 AS ER - asyl.net: M13475
https://www.asyl.net/rsdb/M13475
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Unionsbürger, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Asylbewerberleistungsgesetz, Daueraufenthalt, Aufenthaltsdauer, Duldung, Aufenthaltserlaubnis, Arbeitnehmerbegriff, Arbeitnehmer, Erlöschen, Inhaftierung, Gleichbehandlungsgrundsatz, Diskriminierungsverbot, Gemeinschaftsrecht
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2; AsylbLG § 1 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 5 a.F.; FreizügG/EU § 4a Abs. 1; AufenthG/EWG § 1 Abs. 1 Nr. 1; VO Nr. 1612/68 Art. 7; VO Nr. 1407/71 Art. 3
Auszüge:

Die zulässige Beschwerde ist größten Teils unbegründet. Der Senat teilt zumindest im Ergebnis im Wesentlichen die Ansicht des Sozialgerichts.

Ausgangspunkt der rechtlichen Prüfung ist, wie die Bf. zutreffend herausgearbeitet hat, § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Danach sind vom Leistungsanspruch, der durch § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II begründet wird, Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG ausgenommen. Der Bf. ist zu konzedieren, dass sich die Bg. als Inhaberin einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG auf den ersten Blick zwanglos darunter subsumieren lässt. Bei näherer Betrachtung stellt sich die national- (ausländer-) rechtliche Rechtslage dagegen weitaus komplizierter dar. Denn es erscheint fraglich, ob das Aufenthaltsrecht der Bg. tatsächlich nur auf einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG beruht. Diskussionswürdig ist nämlich, ob die Bg. nicht inzwischen ein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 5 FreizügG/EU a.F. bzw. nach § 4 a Abs. 1 FreizügG/EU n.F. erworben hat. Diese Regelungen setzen übereinstimmend voraus, dass der EU-Ausländer sich fünf Jahre lang rechtmäßig im anderen Mitgliedsstaat aufgehalten hat. Im vorliegenden Fall liegt ein fünfjähriger Aufenthalt im Sinn dieser Vorschriften ohne Zweifel vor. Problematisch ist aber, ob dieser Aufenthalt im Bundesgebiet auch rechtmäßig war.

Im Hinblick auf die gesetzlichen Anforderungen an die zeitliche Lage des rechtmäßigen Aufenthalts schließt sich der Senat dem Verwaltungsgericht S. (vgl. die obige Darstellung des Urteils vom 23.12.2005) an. Ein rechtmäßiger fünfjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland irgendwann genügt nicht (in vergleichbarer Problematik offen gelassen VG Darmstadt, Beschluss vom 07.12.2007 - 8 G 1624/07, RdNr. 2 des JURIS-Ausdrucks). Das Daueraufenthaltsrecht soll vielmehr unmittelbar an einen Vortatbstand, der den Ausländer "daueraufenthaltswürdig" macht, anknüpfen. Maßgebend ist daher der Zeitraum von 1999 bis Ende 2004.

Letztlich kommt der Senat zum Ergebnis, dass der Aufenthalt der Bg. in der Bundesrepublik Deutschland während des fraglichen Zeitraums nicht rechtmäßig war (zur Auslegung des Begriffs "rechtmäßig" vgl. bereits Art. 1 und 11 Abs. 1 EFA, wo der Begriff "erlaubt" verwendet wird).

Es dürfte keinen ernsthaften Zweifeln begegnen, dass eine Aufenthaltsgenehmigung nach dem Ausländergesetz (AuslG) - auch wenn es sich bei der Bg. um die Angehörige eines Mitgliedsstaates handelt - geeignet gewesen wäre, den Aufenthalt der Bg. im Bundesgebiet "rechtmäßig" zu machen. Ganz offensichtlich war der Aufenthalt der Bg. in der Bundesrepulik Deutschland vom 25.10.1996 bis 17.01.2007 formal aber lediglich ein geduldeter. Während dieses Zeitraums war ihr gerade keine Aufenthaltsgenehmigung nach dem Ausländergesetz erteilt worden.

Das Verwaltungsgericht S. hat in dem oben dargestellten Urteil vom 23.12.2005, ohne dies zu problematisieren, angenommen, die Arbeitnehmereigenschaft der Bg. sei 1996 entfallen. Nach Ansicht des Senats bedarf es jedoch einer näheren Begründung, warum der Freizügigkeitstatbestand des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG/EWG, der an die Arbeitnehmereigenschaft anknüpft, nicht über das Jahr 1996 hinaus gewirkt hat. "Arbeitnehmer" in diesem Sinn ist nämlich nicht nur, wer gegenwärtig unmittelbar in einer Beschäftigung steht. Nach der EU-Rechtslage 1996 stand Arbeitnehmern auf der Grundlage von Art. 39 Abs. 3 Buchstabe d des EG-Vertrages (EGV) unmittelbar ein Verbleiberecht zu, welches durch die Verordnung Nr. 1251/70 (EWG) näher ausgestaltet wurde (vgl. Becker, Arbeitnehmerfreizügigkeit, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 9 RdNr. 16); § 6a Aufenth/EWG "transformierte" die Verordnungsregelung - auch wenn EU-Verordnungsrecht grundsätzlich unmittelbar gilt - in nationales Recht. Einen entsprechenden Tatbestand, der zu einem Verbleiberecht führte, hat die Bg. aber evident nicht erfüllt. Unabhängig von dem ausdrücklich geregelten Verbleiberecht verliert der Betroffene im Fall der Arbeitslosigkeit nicht notwendigerweise den Status als "Arbeitnehmer" im Sinn von Art. 39 EGV (vgl. Franzen in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, 2003, Art. 39 EGV RdNr. 34 m.N. zur EuGH-Rechtsprechung) - und damit auch im Sinn von § 1 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG/EWG. Dieser Status bleibt jedenfalls bestehen, solange sich der Arbeitslose als Arbeitsuchender weiterhin im Staat der bisherigen Beschäftigung aufhält. Die Arbeitnehmereigenschaft erlischt spätestens, wenn feststeht, dass eine Beschäftigung als Arbeitnehmer dauerhaft unmöglich ist (Franzen, a.a.O.; vgl. EuGH, Rs. C-85/96, Slg 1998, I-2691 RdNr. 32 m.w.N. zur EuGH-Rechtsprechung). Im Fall der Bg. ist der Arbeitnehmerstatus bereits mit deren Inhaftierung entfallen; denn von da an konnte sie dem Arbeitsmarkt zwangsläufig nicht mehr zur Verfügung stehen.

Die Haftentlassung Ende 1999 kann allenfalls zu einem kurzzeitigen Wiederaufleben der Arbeitnehmereigenschaft geführt haben.

In Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht S. ist als Zwischenergebnis festzuhalten, dass unmittelbar vor Inkrafttreten des § 2 Abs. 5 FreizügG/EU zum 01.01.2005 zu Gunsten der Bg. weder ein Aufenthaltsrecht für EU-Bürger noch eine ausländerrechtliche Aufenthaltsgenehmigung vorgelegen hatte.

Die (ausländerrechtliche) Annahme der Bf., ein Aufentha1tsrecht der Bg. resultiere allein aus der Aufenthaltsbefugnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG, trifft somit allem Anschein nach zu. Das führt dazu, dass der Bg. dem Grunde nach ein Leistungsanspruch nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 AylbLG zusteht, was - gemessen am nationalen Recht - wiederum zum Leistungsanspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II führt. Dieses Ergebnis stünde indes nach Ansicht des Senats mit internationalem Sozialrecht nicht in Einklang.

Die Vorenthaltung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts würde gegenüber der Bg. eine Verletzung der europarechtlichen Gleichbehandlungspflicht bedeuten.

Es bedarf keiner Erörterung, inwieweit bereits aus dem EG-Vertrag selbst ein einschlägiges Gleichbehandlungsgebot abgeleitet werden kann. Jedenfalls ergibt sich ein solches aus (europarechtlichem) Sekundärrecht. Dabei ist nicht die in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 normierte Gleichbehandlungspflicht einschlägig. Denn diese bezieht sich ausschließlich auf Arbeitnehmer im engeren Sinn (vgl. zum Arbeitnehmerbegriff der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 EuGH, Rs. C-85/ Slg. 1998, I-2691 RdNr. 32); eine Arbeitnehmerin diesem Sinn ist die Bg. nicht mehr. Jedoch resultiert eine einschlägige Gleichbehandlungspflicht aus Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71. Der sachliche Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist zwar nach Maßgabe ihres Art. 4 eingeschränkt, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zählen aber gemäß Art. 4 Abs. 2a in Verbindung mit Anhang IIa Buchstabe E der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dazu; sie werden nicht von Art. 4 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 erfasst, wonach die Verordnung auf die Sozialhilfe nicht anwendbar ist (vgl. bereits Fuchs in: Ders. (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Auflage 2005, Artikel 4 RdNr. 39). Zwar modifiziert Art. 10 a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 deren Einschlägigkeit für so genannte beitragsunabhängige Sonderleistungen, zu denen auch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gehören, ganz erheblich. Das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bleibt davon aber unberührt.

Das in Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 geregelte Gleichbehandlungsgebot untersagt jegliche auf die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates gestützte Diskriminierung einer in den Geltungsbereich der Verordnung fallenden Person auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit (Eichenhofer in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Auflage 2005, Artikel 3 RdNr. 1). Die Bg. fällt in den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung; sie ist als Arbeitnehmerin im Sinn von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 anzusehen. Das lässt sich zwar bei wortgenauer Betrachtung nicht mit der Begriffsbestimmung des Art. 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in Einklang bringen (vgl. zur Regelungstechnik von Art. 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Eicherhofer, a.a.O., Artikel 1 RdNr, 12; EuGH, Rs. C-85/96, Slg 1998, I-2597. Rd-Nr, 36 ff .); denn diese stellt maßgeblich auf die abstrakte Integration dem Betroffenen in ein Sozialversicherungssystem ab. Mit den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geht der Staat zwar das von der Verordnung grundsätzlich umfasste Risiko Arbeitslosigkeit ein, er praktiziert das aber gerade nicht im Wege eines Sozialversicherungsmodells. Um aber die Einbeziehung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Art. 4 Abs. 2a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nicht leerlaufen zu lassen, muss der Arbeitnehmerbegriff erweiternd ausgelegt werden.

Die Bf. möchte der Bg. allein wegen deren niederländischer Staatsangehörigkeit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vorenthalten. Eine Diskriminierung im europarechtlichen Sinn liegt damit grundsätzlich vor; gegeben ist eine direkte Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit der Bg. Jedoch gilt das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) RdNr. 1408/71 prinzipiell nur soweit, als der Aufenthalt im anderen Mitgliedsstaat rechtmäßig ist (vgl. EuGH, Rs. C-85/96, Slg 1998, I-2691 RdNr. 47, 49). Insoweit kommt es nun - anders als bei der Frage, ob ein Daueraufenthaltsrecht besteht - nicht mehr darauf an, wie der Zeitraum von 1999 bis 2004 rechtlich zu beurteilen ist. Entscheidend ist allein, dass sich die Bg. gegenwärtig rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Seit 18.01.2007 verfügt sie über einen Aufenthaltstitel, wenn auch nur über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG. Das impliziert, dass eine Verweigerung der Leistungen wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II gegen Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 verstoßen würde. Die festgestellte Diskriminierung ist grundsätzlich keiner Rechtfertigung zugänglich. Das Gebot der Gleichbehandlung gilt vielmehr strikt (Eicherhofer, a.a.O., Artikel 3 RdNr. 10).

Eine einschlägige Gleichbehandlungspflicht ergibt sich dagegen nicht aus Art. 1 EFA, weil diese völkerrechtliche Norm durch EU-Recht "suspendiert" ist. Aus der Kollisionsregel des Art. 6 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 geht nämlich hervor, dass dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 Vorrang zukommt (vgl. zu den Auswirkungen des Vorrangs im Einzelnen Steinmeyer in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, 4. Auflage 2005, Artikel 6 RdNr. 4).

Der Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bedeutet, dass eine Kollision von europäischem und nationalem Recht vorliegt und daher § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II im vorliegenden Fall nicht angewandt werden darf. Der Senat darf dies zu Gunsten der Bg. berücksichtigen, ohne dass er vorher ein Vorlageverfahren zum Europäischen Gerichtshof durchführen müsste. Allein schon wegen des vorläufigen Charakters des gerichtlichen Verfahrens war der Senat dazu nicht gehalten.

Anders als das Sozialgericht hält es der Senat für sinnvoll, der Bg. die vorläufigen Leistungen zunächst nur für einen überschaubaren, fest terminierten Zeitraum zuzusprechen. Das wird dem vorläufigen Charakter des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes eher gerecht. Aus dem gleichen Grund werden die Leistungen nur darlehensweise zugesprochen, wobei einzuräumen ist, dass es der Bf., sollte sie in der Hauptsache obsiegen, faktisch schwer fallen dürfte, die Darlehensrückzahlung zu realisieren.