OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Urteil vom 29.05.2008 - 4 Bf 232/07 - asyl.net: M13515
https://www.asyl.net/rsdb/M13515
Leitsatz:

Aufgehoben durch Urteil des BVerwG vom 8.12.2009 - 1 C 16.08 -, M16792!!!

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1. Ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört und der im Besitz einer ordnungsgemäßen unbefristeten Arbeitsgenehmigung ist, kann sich in Bezug auf seinen aufenthaltsrechtlichen Status auf Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 berufen, auch wenn ihm Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 nicht zustehen (im Anschluss an EuGH, Urt. v. 26.10.2006, Rs. C 4/05, Güzeli, NVwZ 2007, 187).

2. Die praktische Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 erfordert, dass ein türkischer Staatsangehöriger, dem die ordnungsgemäße Erlaubnis erteilt worden ist, im Gebiet eines Mitgliedstaates für eine bestimmte Zeit eine Beschäftigung auszuüben, während dieser gesamten Zeit seine Rechte aus dieser Erlaubnis ausüben kann (im Anschluss an EuGH, Urt. v. 2.3.1999, Rs. C 416/96, El-Yassini, NVwZ 1999, 1095, und Urt. v. 14.12.2006, Rs. C 97/05, Gattoussi, NVwZ 2007, 430).

3. Dem nationalen Gericht ist es verwehrt, die Wirksamkeit des assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 im Ergebnis dadurch auszuhöhlen, dass es einer dem türkischen Arbeitnehmer vom Mitgliedstaat erteilten ordnungsgemäßen Arbeitsgenehmigung, welche die Dauer der Aufenthaltsgenehmigung übersteigt, von Anfang an und unter Bezugnahme auf nationale Bestimmungen (§ 285 Abs. 5 SGB III und § 8 Arbeitsgenehmigungsverordnung) Wirkungen für den aufenthaltsrechtlichen Status des Betroffenen gänzlich abspricht (im Anschluss an EuGH Urt. v. 14.12.2006, Rs. C 97/05, Gattoussi, NVwZ 2007, 430; im Ergebnis Abweichung von BVerwG, Urt. v. 1.7.2003, BVerwGE 118, 249).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Rücknahme, Verlängerung, Ehegattennachzug, eigenständiges Aufenthaltsrecht, eheliche Lebensgemeinschaft, Ehewohnung, Türken, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Diskriminierungsverbot, Arbeitnehmer, unbefristete Arbeitsgenehmigung, Arbeitserlaubnis, EuGH, Kooperationsabkommen EWG/Marokko, Europa-Mittelmeer-Abkommen EG/Tunesien
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1; AuslG § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 6 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 10 Abs. 1; SGB II § 284; ArgV § 5; ArgV § 8
Auszüge:

Die mit dem ursprünglichen Hilfsantrag weiter verfolgte Klage ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat die gegen die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnisse und auf Verpflichtung zur Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtete Klage zu Unrecht abgewiesen.

Das Verwaltungsgericht ist im rechtlichen Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass die Aufenthaltserlaubnisse nur nach § 48 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVfG mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden können (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 23.5.1995 BVerwGE 98, 298 ff.) und dass dies voraussetzt, dass dem Kläger ein Anspruch auf diese Aufenthaltsgenehmigungen nicht zustand und die jeweiligen Verlängerungen der Aufenthaltserlaubnisse deshalb rechtswidrige Verwaltungsakte im Sinne der genannten Vorschrift waren. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der streitigen Aufenthaltsgenehmigungen nach § 48 HmbVwVfG haben indes nicht vorgelegen.

1. Die Rücknahme der beiden Aufenthaltserlaubnisse vom 16. August 2001 und vom 20. Januar 2004 scheitert nicht bereits daran, dass dem Kläger im Zeitpunkt deren Erteilung hierauf ein Anspruch im Hinblick auf seine Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen oder als eigenständiges Aufenthaltsrecht nach Beendigung einer mindestens zweijährigen ehelichen Lebensgemeinschaft zustand.

a) Die Aufenthaltserlaubnis durfte nicht nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG i.V.m. § 17 Abs. 1 AuslG erteilt bzw. verlängert werden, weil nach dem eigenen Vortrag des Klägers im August 2001 eine eheliche Lebensgemeinschaft nicht mehr bestand.

b) Die Aufenthaltserlaubnis war auch nicht nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG zu verlängern. Ein Anspruch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht im Sinne dieser Vorschrift hätte nur bestanden, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau mindestens zwei Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hätte. Für eine besondere Härte im Sinne von Nr. 2 dieser Vorschrift und einen gegebenenfalls daraus folgenden Verlängerungsanspruch ist weder etwas vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.

Das Bestehen einer aufenthaltsrechtlich geschützten ehelichen Lebensgemeinschaft setzt zwar nicht notwendig das ständige Zusammenleben in einer häuslichen Gemeinschaft voraus. Eine eheliche Lebensgemeinschaft wird aber in der Regel durch eine gemeinsame Ehewohnung gekennzeichnet (vgl. dazu auch BVerwG, Urt. v. 9.12.1997, InfAuslR 1998, 272 f.; OVG Hamburg, Beschl.v. 1.6.2005, 4 Bs 427/04; VGH Kassel, Beschl.v. 24.7.2000, InfAuslR 2000, 494 ff.). Sofern dies nicht der Fall ist, kann von einer ehelichen Lebensgemeinschaft nur dann ausgegangen werden, wenn die Ehegatten einen intensiven persönlichen Kontakt pflegen, ihre tatsächliche eheliche Verbundenheit nach außen erkennbar und nachprüfbar in konkreter Weise in Erscheinung tritt und in der Ausgestaltung der Beziehung einen fassbaren Niederschlag findet. An den Nachweis bzw. die Glaubhaftmachung einer ehelichen Lebensgemeinschaft bei getrennten Wohnungen sind insoweit strenge Anforderungen zu stellen. Es muss substantiiert dargelegt werden, aus welchen nachvollziehbaren Gründen, die nicht die ehelichen Bindungen berühren, die Ehegatten getrennte Wohnungen haben und welche nach außen erkennbaren und nachprüfbaren objektiven Umstände belegen, dass die Ehegatten trotz der räumlichen Trennung einen intensiven persönlichen Kontakt pflegen (OVG Hamburg, Beschl. v. 18.1.2007, 4 Bs 233/06; vgl. dazu auch VGH Kassel, Beschl.v. 24.7.2000, a.a.O.; VGH Mannheim Urt.v. 25.3.1998, EzAR 023 Nr 11; OVG Münster, Beschl. v. 5.11.1996, NWVwBl. 1997, 222). Das hat zur Folge, dass derjenige, der sich bei unterschiedlichen Aufenthaltsorten darauf beruft, dass gleichwohl noch eine eheliche Lebensgemeinschaft besteht, hierfür die materielle Beweislast trägt. Im Falle der Unaufklärbarkeit der Lebensverhältnisse hat er die Folgen zu tragen.

Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen des Klägers nicht. Er hat weder im erstinstanzlichen Verfahren noch im Berufungsverfahren substantiiert dargelegt, dass er mit seiner deutschen Ehefrau trotz getrennter Wohnungen tatsächlich über mehr als zwei Jahre, nämlich - wie geltend gemacht - bis zum Herbst 2000 eine eheliche Lebensgemeinschaft geführt hat. Er hat keinerlei nach außen erkennbare und nachprüfbare objektive Umstände genannt, durch die eine solche Gemeinschaft belegt wird.

2. Die Beklagte ist bei der Rücknahme der Aufenthaltserlaubnisse auch zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger in den maßgeblichen Verlängerungszeitpunkten (August 2001 und Januar 2004) keine Aufenthaltsrechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 herleiten konnte. Der Kläger war noch nicht mindestens ein Jahr bei demselben Arbeitgeber beschäftigt.

3. Dagegen fehlt es an der - für die Rücknahme der befristeten Aufenthaltserlaubnisse aus 2001 und 2004 notwendigen - Voraussetzung der rechtswidrigen Erteilung dieser Erlaubnisse deshalb, weil das Arbeitsamt Bochum dem Kläger im September 1998 eine unbefristete Arbeitsgenehmigung erteilt hat und sich daraus in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot nach Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 für den Kläger ein - von der Ehe unabhängiges - Aufenthaltsrecht ergeben hat.

Aus dieser Vertragsbestimmung und der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (Europäischer Gerichtshof – EuGH -) zu dem darin enthaltenen Diskriminierungsverbot sowie den Entscheidungen dieses Gerichts zu inhaltsgleichen Vorschriften in Europa-Mittelmeer-Abkommen, welche die Gemeinschaft mit verschiedenen anderen Staaten geschlossen hat (u.a. Marokko und Tunesien) ergibt sich, dass der Kläger auf der Grundlage der ihm erteilten unbefristeten Arbeitsgenehmigung nach Ablauf der Gültigkeit der (nicht zurückgenommenen) Aufenthaltserlaubnisse deren Verlängerung beanspruchen konnte. Die Verlängerungen sind aus diesem Grund nicht rechtswidrig gewesen und durften deshalb von der Beklagten nicht nach § 48 Abs. 1 HmbVwVfG zurückgenommen werden. Denn durch die Erteilung einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung sind dem Kläger in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen worden, ohne dass diese Rechte mit dem Ablauf der Befristung der von der Stadt Bochum erteilten Aufenthaltserlaubnis oder der späteren Rücknahme der von der Beklagten erteilten Aufenthaltserlaubnisse erloschen sind (hierzu unter a). Es lässt sich auch nicht feststellen, dass dieses Recht auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung aus Gründen des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, oder deshalb gerechtfertigt war, weil der Kläger das Recht auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet von Anfang an erschlichen hatte (hierzu unter b). Im Einzelnen:

a)

aa) Ein türkischer Arbeitnehmer wie der Kläger kann sich auf das Verbot der Diskriminierung nach Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 in Bezug auf seinen aufenthaltsrechtlichen Status berufen. Die Systematik des Beschlusses ARB 1/80 steht nicht entgegen. Ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört und der im Besitz einer ordnungsgemäßen unbefristeten Arbeitsgenehmigung ist, ist nicht gehindert, sich in Bezug auf seinen aufenthaltsrechtlichen Status auf Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 zu berufen, auch wenn ihm mangels der erforderlichen Beschäftigungsdauer Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 (noch) nicht zustehen bzw. im maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht zugestanden haben.

Das folgt aus dem Urteil des EuGH vom 26. Oktober 2006 (Rs. C-4/05, Güzeli, NVwZ 2007, 187). In dieser Entscheidung, die auf den Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Aachen vom 29. Dezember 2004 (NVwZ 2005, 136) hin ergangen ist, hat der EuGH zunächst Ausführungen dazu gemacht, unter welchen Voraussetzungen im Ausgangsfall der dortige Kläger sich gegebenenfalls auf Art. 6 ARB 1/80 berufen könne, und er hat sodann u.a. ausgeführt, dass eine Berufung auf Art. 10 Abs.1 ARB 1/80 zur Begründung eines Aufenthaltsrechts (nur) dann ausgeschlossen sei, wenn der türkische Staatsangehörige nach Prüfung durch das nationale Gericht nicht die Voraussetzung der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt erfülle. Das bedeutet, dass sich ein türkischer Staatsangehöriger dann, wenn er dem regulären Arbeitsmarkt angehört, auf das Diskriminierungsverbot berufen kann, auch wenn er die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht auf Grund der Regelungen des Art. 6 ARB 1/80 nicht erfüllt.

Durch die Rechtsprechung des EuGH ist ferner geklärt, dass eine Bestimmung wie Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80, die ein assoziationsrechtliches Diskriminierungsverbot enthält, in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar ist.

Der Kläger erfüllte die notwendigen Voraussetzungen, unter denen sich danach türkische Staatsangehörige grundsätzlich auf Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 berufen können.

bb) Das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 hinderte die Beklagte daran, die Aufenthaltserlaubnisse zurückzunehmen.

Bei der Bestimmung von Tragweite und Grenzen des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 in Bezug auf sich daraus gegebenenfalls ergebende Aufenthaltsrechte eines türkischen Arbeitnehmers für die Dauer der erlaubten Beschäftigung sind diejenigen Grundsätze maßgeblich, die der EuGH für Diskriminierungsverbote in den Bestimmungen des Art. 40 Abs. 1 des Kooperationsabkommens zwischen der EWG und Marokko und des Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommens EG-Tunesien in den Urteilen vom 2. März 1999 (Rs. C-416/96, El-Yassini, NVwZ 1999, 1095 ) und vom 14. Dezember 2006 (Rs. C-97/05, Gattoussi, NVwZ 2007, 430 ) aufgestellt hat. Das ergibt sich aus Folgendem: ...

Nach der Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 2. März 1999 (Rs. C-416/96, El-Yassini, NVwZ 1999, 1095) untersagt es die genannte Bestimmung einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht, es abzulehnen, die Aufenthaltserlaubnis eines marokkanischen Staatsangehörigen, dem er die Einreise und die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt hat, für die gesamte Dauer dieser Beschäftigung zu verlängern, wenn der ursprüngliche Grund für die Gewährung des Aufenthaltsrechts bei Ablauf der Aufenthaltserlaubnis nicht mehr besteht. Dass ein solches Vorgehen der zuständigen nationalen Behörden den Betroffenen dazu zwingt, sein Arbeitsverhältnis im Aufnahmemitgliedstaat vor dem mit dem Arbeitgeber vertraglich vereinbarten Termin zu beenden, ändert daran grundsätzlich nichts (vgl. Leitsatz 3 und Rn. 66 ff. des Urteils El-Yassini). Anders verhält es sich nach der Rechtsprechung dieses Gerichts nur, wenn dem Betroffenen durch ein derartiges Vorgehen das Recht auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das ihm durch eine von der zuständigen nationalen Behörde ordnungsgemäß erteilte Arbeitserlaubnis erteilt wurde, die länger als die Aufenthaltserlaubnis war, entzogen würde, ohne das Gründe des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, dies rechtfertigten. Ob dies der Fall ist, ist nach Auffassung des EuGH von dem nationalen Gericht zu beurteilen (vgl. Leitsatz 3 und Rn. 67 des Urteils El-Yassini). Zur Begründung hat der EuGH im Urteil El-Yassini weiter ausgeführt, die praktische Wirksamkeit von Art. 40 Abs. 1 des Abkommens EWG-Marokko ("effet utile") erfordere es, dass ein marokkanischer Staatsangehöriger, dem ordnungsgemäß die Erlaubnis erteilt worden sei, im Gebiet eines Mitgliedstaats für eine bestimmte Zeit eine Beschäftigung auszuüben, während dieser gesamten Zeit seine Rechte aus dieser Bestimmung ausüben könne (Rn. 66).

Diese Grundsätze hinsichtlich der Beachtung des Diskriminierungsverbots bei Entscheidungen der Ausländerbehörden über den weiteren Aufenthalt von Ausländern hat der EuGH im Urteil vom 26. Oktober 2006 (Rs. C-4/05, Güzeli, InfAuslR 2007, 1 ff.) auf türkische Staatsangehörige übertragen, soweit sie sich als Arbeitnehmer grundsätzlich auf das assoziationsrechtliche Diskriminierungsverbot des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 berufen können.

Der EuGH hat inzwischen seine Rechtsprechung zur Bedeutung eines assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots für den aufenthaltsrechtlichen Status eines Ausländers im Urteil vom 14. Dezember 2006 (Rechtssache C-97/05, Gattoussi) zu der im Wesentlichen mit Art. 40 Kooperationsabkommen EWG-Marokko und mit Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 inhaltsgleichen Regelung in Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommens EG-Tunesien wiederholt und vertieft. Diese Regelung lautet: ...

Dieser Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zur aufenthaltsrechtlichen Wirkung "überschießender" Arbeitserlaubnisse bei der Auslegung des hier entscheidungserheblichen Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 schließt sich der erkennende Senat an. Denn das Berufungsgericht ist als nationales Gericht im Interesse der einheitlichen Anwendung des Europarechts grundsätzlich gehalten, die vom EuGH vorgegebene Auslegung anzuwenden (vgl. dazu EuGH, Urt. v. 6.10.1982 - Rs. C-283/81, CILFIT, Slg. 1982, 3415, Rn 16).

Durch diese Entscheidung des EuGH ist geklärt, dass Art. 64 Abs. 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens - und mithin auch der damit inhaltlich identische Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 - dahin auszulegen ist, dass bei der Entscheidung der Ausländerbehörden über die Genehmigung des weiteren Aufenthalts eine dem Ausländer ordnungsgemäß erteilte unbefristete Arbeitsgenehmigung zu berücksichtigen ist und im Einzelfall ein weitergehendes Aufenthaltsrecht begründen kann. Dem steht nicht entgegen, dass die Arbeitsgenehmigung nach dem deutschen Recht in ihrer Wirksamkeit von dem Aufenthaltsrecht abhängig ist. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Dem Vorlageersuchen des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 25. Januar 2005 und dem Urteil des EuGH vom 14. Dezember 2006 (a.a.O.) lag ein mit den vorliegenden Verhältnissen vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. Der Kläger des Vorlageverfahrens, ein tunesischer Staatsangehöriger, hatte 2002 eine deutsche Staatsangehörige geheiratet und war im selben Jahr mit einem Visum zur Familienzusammenführung in das Bundesgebiet eingereist. Ihm wurde im September 2002 erstmals eine bis September 2005 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Im Oktober desselben Jahres erteilte das Arbeitsamt der Stadt Darmstadt dem dortigen Kläger eine unbefristete Arbeitsgenehmigung, auf Grund derer er in der Folgezeit unselbstständig tätig war. Nachdem seine Ehefrau im Mai 2004 erklärt hatte, seit April getrennt zu leben, befristete der Oberbürgermeister der dortigen Beklagten im Juni 2004 die noch gültige Aufenthaltserlaubnis nachträglich auf den Tag der Zustellung der Verfügung.

Ferner sind dem EuGH in dem Verfahren Gattoussi u.a. auch diejenigen Normen des deutschen Rechts bekannt gewesen, welche die Abhängigkeit der Erteilung und des Fortbestandes einer (unbefristeten) Arbeitsgenehmigung von dem Besitz einer Aufenthaltserlaubnis betreffen, also insbesondere § 284 SGB III und §§ 5, 8 Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArgV). Auf die durch diese nationalen Bestimmungen begründete Abhängigkeit auch einer nicht befristeten Arbeitsgenehmigung von der befristeten Aufenthaltserlaubnis hatte das Verwaltungsgericht Darmstadt in seinem Vorlagebeschluss vom 25. Januar 2005 ausdrücklich hingewiesen (InfAuslR 2005, 135, Rn. 21). Auch der Generalanwalt hatte in seinem Schlussantrag vom 6. April 2006 im Verfahren Gattoussi unter Nennung der entsprechenden Vorschriften auf die Abhängigkeit der Arbeitserlaubnis von dem aufenthaltsrechtlichen Status des Ausländers hingewiesen (juris, Rn. 20 und Anhang Rn. 21 ff.). Insoweit hat der EuGH im Urteil Gattoussi die entsprechenden deutschen Vorschriften teilweise selbst zitiert. Deshalb ist davon auszugehen, dass er ihren Inhalt bei seiner Entscheidung über das Vorlageersuchen gekannt und offenbar berücksichtigt hat (vgl. Rn. 7 bis 9).

Schließlich ist dem EuGH in Verfahren Gattoussi auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bekannt gewesen, die dieses Gericht im Anschluss an das Urteil des EuGH vom 3. März 1999 (Rechtssache C-416/96, El-Yassini, NVwZ 1999, 1095) entwickelt hat. Nach der vom Bundesverwaltungsgericht in den Urteilen vom 1. Juli 2003, (1 C 18/02, BVerwGE 118, 249 ff., und 1 C 32/02, InfAuslR 2004, 54) vertretenen Auffassung vermittelt eine unbefristete Arbeitsgenehmigung nach deutschem Recht kein von der Aufenthaltsgenehmigung unabhängiges, gleichsam überschießendes Recht auf Fortsetzung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit und auf weiteren Aufenthalt nach dem Diskriminierungsverbot in Art. 64 des Europa-Mittelmeer-Abkommens/Marokko. Denn nach deutschem Recht gewähre jede Arbeitsgenehmigung nur eine vom Fortbestehen der Aufenthaltserlaubnis abhängige Rechtsposition. Diese Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts hatte das Verwaltungsgericht Darmstadt in seinem Vorlagebeschluss zitiert und die genannten, entscheidungserheblichen Gründe auszugsweise wiedergegeben (InfAuslR, a.a.O., Rn. 21).

Aus den späteren Urteilen vom 26. Oktober 2006 im Verfahren Güzeli und vom 14. Dezember 2006 im Verfahren Gatoussi ergibt sich jedoch, dass der EuGH dem nationalen Gericht (nur) die Entscheidung der Fragen überantwortet hat, ob - zum einen - in der vom nationalen Gericht zu entscheidenden Rechtssache eine mit den genannten Entscheidungen des EuGH vergleichbare Ausgangslage gegeben ist (der Betroffene also zum regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats gehört und eine die Dauer des Aufenthaltsrechts übersteigende ordnungsgemäße Arbeitsgenehmigung faktisch vorliegt), und ob - zum anderen - eine gleichwohl vor Ablauf der Arbeitserlaubnis erfolgte Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bzw. eine Befristung oder Rücknahme der Aufenthaltsgenehmigung aus Gründen des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, gerechtfertigt ist. Dagegen ist es dem nationalen Gericht – wie sich nunmehr insbesondere aus dem Urteil Gattoussi eindeutig ergibt - verwehrt, die Wirksamkeit des assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots durch eine Auslegung des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 (wie bei der Auslegung vergleichbarer Vertragsbestimmungen) im Ergebnis dadurch auszuhöhlen, dass es einer dem türkischen Arbeitnehmer vom Mitgliedstaat erteilten ordnungsgemäßen Arbeitsgenehmigung, welche die Dauer der Aufenthaltsgenehmigung übersteigt, von Anfang an und unter Bezugnahme auf nationale Bestimmungen aufenthaltsrechtliche Wirkungen gänzlich abspricht. Insoweit hat der EuGH nämlich in den genannten Entscheidungen die noch im Urteil El-Yassini verwendete (missverständliche) Erwägung nicht mehr wiederholt, der Betroffene könne sich auf ein Diskriminierungsverbot (nur dann) berufen, wenn das vorlegende Gericht feststellen sollte, dass der Aufnahmemitgliedstaat ihm in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen hätte (dort Rn. 64). Vielmehr hat der EuGH im Urteil Güzeli – nach Darlegung der allgemeinen Grundsätze bei Auslegung von Vertragsbestimmungen, die ein Diskriminierungsverbot beinhalten – insoweit nur noch ausgeführt, es sei Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob eine solche Fallgestaltung im Ausgangsverfahren vorlag, wobei insbesondere die Verurteilung von Herrn Güzeli wegen Verstoßes gegen die in seiner Aufenthaltserlaubnis enthaltenen Auflagen zu berücksichtigen sei. Dieser mögliche, nach Zurückverweisung vom vorlegenden Verwaltungsgericht Aachen zu prüfende Verstoß hätte jedoch nur die Zugehörigkeit des türkischen Staatsangehörigen zum regulären (deutschen) Arbeitsmarkt betroffen und (nur) dieser Umstand hätte nach Auffassung des EuGH zur Nichtanwendung von Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 geführt. Einen Ausschluss der Berufung auf das Diskriminierungsverbot nach dieser Bestimmung zur Begründung eines mit der Arbeitsgenehmigung "deckungsgleichen" Aufenthaltsrechts hat der EuGH - auch angesichts der ihm bekannten Rechtslage in Deutschland (Abhängigkeit der Arbeitserlaubnis von der Aufenthaltsgenehmigung) - dagegen nicht erwogen.

b) Die Entziehung des Rechts des Klägers auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das ihm durch die Erteilung einer unbefristeten Arbeitserlaubnis eingeräumt worden war, durch Rücknahme der 2001 und 2004 erteilten Aufenthaltserlaubnisse war auch nicht aus Gründen des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich durch Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt. Der Begriff der hier insoweit allein in Betracht kommenden öffentlichen Ordnung setzt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urt. v. 28.10.1975, Rs. 36/75, Rutili, Slg. 1975, 1279, Rn. 28; v. 10.2.2000, Rs. C-340/97, Nazli, Slg. 2000, I-957, Rn. 57; und v. 25.7.2002, Rs. C-459/99, MRAX, Slg. 2002, I-6591, Rn. 79). Ein solcher Sachverhalt liegt hier nicht vor.