Keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei, die den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen würde.
Keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei, die den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen würde.
(Leitsatz der Redaktion)
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der Asylanerkennung und der Flüchtlingseigenschaft nicht vor.
Dem Kläger wurde Asyl gewährt und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da er wegen des Verdachts der Unterstützung der HADEP und der PKK in das Blickfeld türkischer Sicherheitskräfte geraten ist.
Eine durch Umsturz hervorgerufene Verbesserung der politischen Verhältnisse im Sinne eines Systemwechsels - eine solche Veränderung hatte dem Gesetzgeber in erster Linie vor Augen gestanden (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.07.2006 a.a.O.) - ist in der Türkei unzweifelhaft nicht eingetreten.
Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Asylanerkennung und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.10.2007).
Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007; Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster; Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg und vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 02.08.2005 an VG Sigmaringen; Aydin, Gutachten vom 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Mai 2006 und Oktober 2007). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Im Jahr 2007 wurde jedoch im Vergleich zum Vorjahr erneut ein Anstieg um 40 Prozent der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung festgestellt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007).
Auch nach dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 06.11.2007 besteht noch die Gefahr von extralegalen Festnahmen und Misshandlungen sowie generell die Gefahr, ohne die Möglichkeit anwaltlichen Beistands oder ärztlicher Kontrolle festgenommen zu werden. In dem Bericht wird weiter beanstandet, dass es der Justiz an tatsächlicher Unabhängigkeit fehlt.
In der Rechtsprechung wird weiter nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. OVG Münster, Urt. v. 26.05.2004 - 8 A 3852/03.A - juris = Asylmagazin 10/2004, 30; Urt. v. 19.04.2005 - 8 A 273/04.A - juris -; Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - juris - und Urt. v. 17.04.2007 - 8 A 2771/06.A; OVG Koblenz, Urt. v. 12.03.2004 - 10 A 11952/03 - juris - = Asylmagazin 7-8/2004, 27; OVG Weimar, Urt. v. 18.03.2005 - 3 KO 611/99 -, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 29.11.2004 - 3 L 66/00 -, Asylmagazin 1-2/2005, 32; OVG Saarland, Urt. v. 01.12.2004 - 2 R 23/03 -, Asylmagazin 4/2005, 30; OVG Bautzen, Urt. v. 19.01.2006 - A 3 B 304/03 -; VG Berlin, Urt. v. 01.03.2006, Asylmagazin 7-8/2006, 37 und Urt. v. 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32; VG Frankfurt, Urt. v. 02.03.2006, Asylmagazin 6/2006, 20; VG Weimar, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 20643/04 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2006 - 26 K 1747/06 -; Urteil vom 24.08.2006 - 4 K 1784/06.A - juris - und Urteil vom 24.01.2007 - 20 K4697/05.A - juris; VG Ansbach, Urteil vom 06.03.2007, AuAS 2007, 141; VG Münster, Urteil vom 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - juris -; VG Bremen, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 1611/04 -).
Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007).
In Reaktion auf diese Zunahme von Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Danach werden mehr Taten als bisher als terroristisch eingestuft und Festgenommene erhalten später als bisher Zugang zu einem Anwalt. Die Gesetzesänderung erweitert weiter die Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Rechte von Verteidigern einzuschränken (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007). Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme vom 29.10.2006 an VG Ansbach). Dementsprechend hat sich das Reformtempo seit Anfang 2005 deutlich verlangsamt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Aufgrund der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurde die Debatte über eine weitere Demokratisierung in der Türkei nunmehr von der Sicherheitsfrage verdrängt (vgl. NZZ vom 24.10.2007). In einem Memorandum des Generalstabsamtes vom 24.04.2007 haben sich die türkischen Streitkräfte gegenüber dem EU-Beitritt der Türkei negativ positioniert; dies und die intensivierten militärischen Auseinandersetzungen in der Türkei haben die Sicherheitskräfte ermutigt, die Reformgesetze zu missachten (vgl. Kaya, Gutachten vom 20.06.2007 an OVG Bautzen). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.
Darüber hinaus übersieht das Bundesamt auch, dass sich die Situation von Mitgliedern der HADEP, DEHAP und nun der DTP in der Türkei keineswegs verändert hat. Die Parteien HADEP, DEHAP und DTP werden von den türkischen Sicherheitskräften weiter als der verlängerte Arm der PKK betrachtet; deren Mitgliedern wird deshalb eine Nähe zur PKK nachgesagt (vgl. Kaya, Gutachten vom 10.09.2007 an VG Berlin und vom 28.09.2007 an VG Düsseldorf; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007 - und Gutachten vom 23.02.2006). Aufgrund dieses Verdachts werden Mitglieder der HAD EP/D EH AP/DTP landesweit unter Druck gesetzt, observiert, angeklagt und gefoltert (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 28.02.2003 an OVG Greifswald; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23.02.2006).
Es kann auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger aufgrund des Verdachts, für die HADEP politisch aktiv gewesen zu sein und damit die PKK unterstützt zu haben, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen und vom 09.08.2006 an VG Berlin). Diese Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt seit Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Für die Einschätzung der Gefährdung von vorverfolgt ausgereisten Personen ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen sich kein Mensch befand, der der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen Organisation verdächtigt wurde (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; ebenso OVG Münster, Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - juris -). Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23.02.2006; Taylan, Gutachten vom 29.05.2006 an VG Wiesbaden; Kaya, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg).
Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind (ebenso die in den letzten Monaten bekanntgewordenen Gerichtsentscheidungen: u.a. OVG Bautzen, Urt. v. 23.03.2007 - A 3 B 372/05 -; OVG Münster, Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - juris = Asylmagazin 7-8/2007, 28; VG Ansbach, Urt. v. 24.07.2007 - AN 1 K 07.30135 - juris - und Urt. v. 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 - juris -; VG Münster, Urt. v. 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - juris -; VG Düsseldorf, Urt. v. 22.03.2007 - 4 K 172/07.A - juris - und Urt. v. 05.09.2007 - 17 K 3754/07.A -; VG Oldenburg, Urt. v. 04.10.2007 - 5 A 4386/06 - juris -; VG Lüneburg, Urt. v. 06.12.2006 - 5 A 34/06 -; VG Hamburg, Urt. v. 21.11.2006 - 15 A 429/06 - und Urt. v. 25.10.2007 - 1 5 A 387/07 - juris -; VG Hannover, Urt. v. 30.01.2008 - 1 A 7832/05 -; VG Berlin, Urt. v. 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32 und Urt. v. 25.01.2008, Asylmagazin 3/2008, 17; VG Karlsruhe, Urt. v. 25.09.2007, Asylmagazin 11/2007, 17; VG München, Urt. v. 14.09.2007 - M 24 K 07.50342 - juris - und Urt. v. 07.02.2008 - M 24 K 07.50978 -). Dass die Beklagte im Lichte neuerer Erkenntnisse die konkrete Verfolgungsgefahr für den Kläger anders bewertet, also aus heutiger Sicht bei der damaligen Sachlage kein Asyl und keinen Flüchtlingsstatus mehr gewähren würde, rechtfertigt den Widerruf der Asylanerkennung und der Flüchtlingseigenschaft nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 a.a.O und Urt. v. 08.05.2003 a.a.O.). Damit ist für den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes kein Raum.