OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 10.06.2008 - 7 ME 78/08 - asyl.net: M13644
https://www.asyl.net/rsdb/M13644
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, Deutschverheiratung, Schutz von Ehe und Familie, Ermessen, Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Befristung, Ausreise, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 25 Abs. 5; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; AufenthG § 11 Abs. 1
Auszüge:

Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO sind erfüllt.

Die Antragsgegnerin hat bisher die Möglichkeiten des § 25 Abs. 5 AufenthG für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts an den Antragsteller nach seiner Eheschließung nicht ausreichend in den Blick genommen. Derartige Hindernisse können sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen auch Verbote aus Verfassungsrecht (etwa Art. 6 GG) oder aus Völkervertragsrecht (etwa Art. 8 EMRK) gehören (BVerwG, Urt. v. 27.6.2006 - 1 C 14.05 - BVerwGE 126, 192 ff.). § 25 Abs. 5 AufenthG stellt eine Norm subsidiären Schutzes dar, die zur Anwendung gelangt, wenn die aufenthaltsrechtlichen Ansprüche des Ausländers in den Vorschriften, die der Gesetzgeber für die spezifischen vom Ausländer verfolgen Aufenthaltszwecke geschaffen hat, keine ausreichende Grundlage finden (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.9.2007 - 1 C 43.06 - DVBl. 2008, 108 ff; Nds. OVG, Beschl. v. 29.5.2008 - 13 LA 37/08 - V.n.b.).

§ 25 Abs. 5 AufenthG gewährt dem Ausländer - vielfach im Unterschied zu den spezifischen Regelungen für die verfolgten Aufenthaltszwecke - zwar keinen bindenden Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels. Jedoch kann der Anspruch des Ausländers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung mit Rücksicht auf das Gewicht verfassungsrechtlich bzw. völkervertragsrechtlich geschützter Belange faktisch zu einem solchen Anspruch erstarken. Das gilt im Hinblick auf Art. 6 GG insbesondere dann, wenn - wie hier geltend gemacht - eine Abschiebung des Ausländers zu einer zeitlich praktisch unabsehbaren Trennung der Ehegatten führen würde. In einem solchen Fall bedürfen die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechenden öffentlichen Belange einer sorgfältigen Abwägung mit den privaten Interessen des Ausländers und seines deutschen Ehepartners.

§ 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 AufenthG stehen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht notwendig entgegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.V.m. Art. 6 GG es im Einzelfall gebieten, die Sperrwirkung der Ausweisung ausnahmsweise so zu befristen, dass der Aufenthalt zum Zweck des ehelichen Zusammenlebens sogleich genehmigt werden kann, wenn eine eheliche Lebensgemeinschaft besteht (BVerwG, Urt. v. 4.9.2007 - 1 C 43.06 - DVBl. 2008, 108 ff.). In einem derartigen Fall ist der Ausländer nicht zur vorherigen Ausreise verpflichtet (BVerwG, aaO unter Hinweis auf Urt. v. 7.12.1999 - 1 C 13.99 - BVerwGE 110, 140, 150 ff.). Soweit der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers und die Antragsgegnerin bisher davon ausgegangen sind, die Stellung eines Befristungsantrages nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vor Ausreise sei "unnütz", ist diese Auffassung demnach nicht zutreffend.

Derartige Entscheidungen nach § 25 Abs. 5 AufenthG und § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind bisher nicht getroffen worden. Daher überwiegen mit Rücksicht auf die möglicherweise irreversiblen Folgen einer Aufenthaltsbeendigung derzeit die privaten Interessen des Antragstellers an einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem öffentlichen Interesse an einem Vollzug seiner Ausweisung nach Sierra Leone. Die Ehegatten haben zwar in Kenntnis der Ausweisungsverfügung vom 21. Dezember 2006 und der sich daraus ergebenen Folgen für den Aufenthaltsstatus des Antragstellers geheiratet, worauf die Antragsgegnerin zutreffend hinweist. Die Hervorhebung dieses Umstandes allein ist aber nicht ausreichend, um eine Ermessensbetätigung nach § 25 Abs. 5 AufenthG und § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu tragen. Die Befürchtung des Antragstellers, dass seine Abschiebung zu einer zeitlich unabsehbaren, möglicherweise gar dauernden Trennung von seiner Ehefrau führen werde, da diese ihm nicht in seinen Herkunftsstaat folgen könne, und weil die Aussicht, von Sierra Leone aus seine Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland mit Erfolg zu betreiben, höchst ungewiss sei, kann im Hinblick auf die bekannten Verhältnisse in dem westafrikanischen Staat nicht völlig von der Hand gewiesen werden.