VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 22.05.2008 - A 241/07 MD - asyl.net: M13677
https://www.asyl.net/rsdb/M13677
Leitsatz:

Yeziden sind vor erneuter mittelbaren Gruppenverfolgung in der Türkei hinreichend sicher.

 

Schlagwörter: Türkei, Jesiden, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Verfolgungsdichte, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Yeziden sind vor erneuter mittelbaren Gruppenverfolgung in der Türkei hinreichend sicher.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

Die Rechtsgrundlage für den Widerruf der erfolgten Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen Von § 51 Abs. 1 AuslG bildet § 73 AsylVfG in der Fassung von Artikel 3 Nr. 46 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtliche Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 - BGBl. I S. 1970 -.

Ob der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG Schutz vor Verfolgung finden, beurteilt sich nach dem sog. herabgestuften Prognosemaßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit.

Unter Berücksichtigung des sog. herabgestuften Prognosemaßstabs der hinreichenden Verfolgungssicherheit ist die Klägerin zur Überzeugung des erkennenden Gerichts nunmehr bei einer Rückkehr in die Türkei vor einer mittelbaren politischen Verfolgung wegen ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit hinreichend sicher. Das Gericht schließt sich insoweit der Rechtsansicht des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24. Oktober 2007 - 3 L 380/04 - an, welches unter Berücksichtigung auch der von der Klägerseite benannten Erkenntnismittel ausführt, im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat sei eine Verfolgungslage bzw. -gefahr für die Angehörigen des yezidischen Glaubens in der Türkei nicht feststellbar. Diese Einschätzung stehe in Übereinstimmung mit der weitgehend einhelligen neueren Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. OVG NRW, Urt. v. 14.2.2006 - 15 A 2119/02.A - ZAR 2006, 215 = juris; OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 29.9.2005 - 1 LB 38/04 -; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 17.7.2007 - 11 LC 332/03 -; vgl. u.a. auch VG Weimar, Urt. v. 4.5.2006 - 2 K 20543/03.We -; VG Münster, Urt. v. 27.10.2006 - 3 K 4915/03.A -; VG Osnabrück, Urt. v. 12.12.2006 - 5 A 311/06 -; VG Arnsberg, Urt. v. 16.11.2004 - 11 K 2552/02.A -; a.A. einen Widerrufsfall betreffend: OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 5.6.2007 - 10 A 11576/06, 10 A 11576/06.OVG - juris; vgl. VG Oldenburg, Urt. v. 23.1.2002 - 5 A 2159/01 -). Die Annahme einer im Südosten der Türkei bestehenden mittelbaren Gruppenverfolgung der Yeziden lasse sich zur Überzeugung des Senats nicht mehr aufrechterhalten. Von einer Gruppenverfolgung in der Türkei seien in der Vergangenheit nur glaubensgebundene (praktizierende) Yeziden betroffen gewesen; hieran habe sich nach der bisherigen Rechtsprechung und übereinstimmender Einschätzung nahezu sämtlicher Gutachter nichts geändert (vgl. u.a. OVG NRW, Urt. v. 23.7.2003 - 8 A 3920/02.A - juris; Urt. v. 24.11.2000 - 8 A 4/99.A -; a.A. Dipl.-Soz. Azad Baris, Gutachten vom 17. April 2006). Der Senat schließe sich dieser Einschätzung an und halte für die Frage, ob gegenwärtig und in absehbarer Zeit eine solche besteht bzw, zu befürchten ist, an dieser Auffassung fest. Deshalb bedürfe es im Einzelfall grundsätzlich der positiven Feststellung, dass der Asylbewerber Yezide ist und seinen Glauben praktiziert.

Insoweit bestehen im vorliegenden Fall - auch nach Ansicht der Beklagten - keine Zweifel.

Das OVG führt im o.g. Urteil weiter aus, nach neuerlicher Prüfung der in der Türkei bestehenden Verhältnisse stehe nach Maßgabe der aufgezeigten Maßstäbe auf der Grundlage der dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel zur Überzeugung des Senats fest, dass zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit (und damit erst recht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit) von einer asylerheblichen Gruppenverfolgung der Yeziden ausgegangen werden könne.

So habe das Auswärtige Amt in mehreren aktuellen Lageberichten und Auskünften ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in den traditionellen Siedlungsgebieten seit geraumer Zeit keine religiös motivierten Übergriffe von Moslems auf Yeziden bekannt geworden seien (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 11.1.2007, S. 26; Lagebericht v. 27.7.2006, S. 24; Auskunft v. 20.1.2006 an OVG Sachsen-Anhalt; Lagebericht v. 11.11.2005, S. 20 f.; Lagebericht v, 3.5.2005, S. 18; Lagebericht v. 19.5.2004, S. 26; Auskunft v. 3.2.2004 an VG Braunschweig). Der Senat habe keinen Zweifel daran, dass die vom Auswärtigen Amt aufgezeigte Tendenz mit einer deutlichen Beruhigung der Lage zutreffend sei und es aufgrund nachhaltig veränderter (politischer) Verhältnisse kaum mehr in nennenswerter Weise Verfolgungsschläge gegenüber Yeziden gegeben habe. Gestützt werde diese Auffassung durch den Umstand, dass die Türkei in den letzten Jahren wegen ihrer Ambitionen bezüglich eines EU-Beitritts und der insoweit angestrebten Beitrittsverhandlungen in besonderer Weise unter Beobachtung insbesondere der europäischen Öffentlichkeit stand und stehe und dass in Menschenrechtsangelegenheiten eine große Anzahl von Beobachtern und Organisationen (Nicht-Regierungs-Organisationen und staatliche Menschenrechtsorganisationen) aktiv seien (Auswärtiges Amt, Lagebericht, vom 11.11.2005 S. 27 f.). Danach wäre zu erwarten gewesen, dass asylrechtlich bedeutsame Verfolgungsschläge registriert und publiziert worden wären, zumal es sich bei den Verfolgungsmaßnahmen gegen Yeziden nicht um staatliche Maßnahmen handele, die auch im Geheimen denkbar wären, sondern um öffentlich wahrnehmbare Gewaltakte der moslemischen Mehrheitsbevölkerung. Dass dies nicht geschehen sei, unterstreiche die Richtigkeit der Auskünfte des Auswärtigen Amtes.

Darüber hinaus sei nach Auffassung des Senats davon auszugehen, dass auch die staatlichen Stellen in der Türkei - anders als in der Vergangenheit - in zunehmenden Maße willens und in der Lage sind, den Yeziden gegen ungesetzliche Maßnahmen der moslemischen Bevölkerung effektiven staatlichen Schutz zu gewähren. Hierfür spreche bereits, dass der türkische Staat erkennbar bemüht sei, die Voraussetzungen für die Aufnahme in die EU gerade auch in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte zu erfüllen und in Verfolgung dieses Zieles eine Vielzahl von Verfassungs- und Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht habe.

Eine im Ergebnis andere Einschätzung rechtfertige sich auch nicht im Hinblick auf die Auskünfte des Yezidischen Forum e.V. in Oldenburg vom 5. Februar 2006 und vom 4. Juli 2006 zur Situation der Yeziden in der Türkei.

Aber selbst wenn man die Angaben im Gutachten des Dipl.-Soz. Baris zumindest als Arbeitshypothese zugrunde lege, rechtfertige sich im Ergebnis gleichwohl keine andere Einschätzung, vielmehr lasse sich nach den aufgrund der quantitativen Relationsbetrachtung gewonnenen Ergebnissen nicht der Schluss ziehen, dass die Verfolgungsschläge so dicht und eng im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts fallen, das bei objektiver Betrachtung für jeden Yeziden und jede yezidische Familie die aktuelle Gefahr bestehe, selbst Opfer eines asylrelevanten Übergriffs zu werden.

Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Yeziden unter Berücksichtigung der aufgezeigten politischen Verhältnisse gegenwärtig in einem Klima allgemeiner gesellschaftlicher Verachtung und einer daraus resultierenden auswegslosen Situation leben müssten, dass Verfolgungsschutz aus diesem Grunde zu gewähren wäre. Hiergegen spreche bereits die Tatsache, dass sich seit Mai 2005 Yeziden in der Provinz Batman organisiert hätten, um langfristig ihre Anerkennung als religiöse Minderheit zu erreichen. Eine ihrer selbst gesetzten Aufgaben sei es, Unterstützung für rückkehrwillige Yeziden aus Europa in dieser Region zu leisten (Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 11.11.2005, S. 20). Von der Notwendigkeit eines Lebens im Verborgenen infolge allgemeiner Ächtung und/oder staatlichen Maßnahmen von asylerheblicher Gewichtigkeit könne daher keine Rede sein. Für eine grundlegende Veränderung der Situation in den traditionellen Siedlungsgebieten der Yeziden spreche nicht zuletzt auch der Umstand, dass eine Vielzahl von geflüchteten bzw. ausgewanderten Yeziden in ihre Heimat freiwillig zurückgekehrt seien.

Das erkennende Gericht hat keine Veranlassung, einen anderen Standpunkt zur Frage der mittelbaren Gruppenverfolgung der Yeziden in der Türkei einzunehmen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der von der Klägerseite namhaft gemachten Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Freiburg, Urteil vorn 25.7.2006 - A 6 K 11023/05 - und des Verwaltungsgerichts Köln, Urteil vom 16.8.2007 - 15 K 475/07.A -. Diese Entscheidungen, abgesehen davon, dass sie älter als die des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt sind und daher nicht dessen Aktualität erreichen, stellen lediglich eine andere Beurteilung der seinerzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel und dokumentieren eine richterliche Überzeugung, der - im Vergleich zu den eingehenden Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt - eine tiefschürfende Analyse- und somit auch Argumentationsdichte mangelt und die deshalb keine andere Beurteilung rechtfertigt.