VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 23.07.2008 - A 4 K 30188/06 - asyl.net: M13829
https://www.asyl.net/rsdb/M13829
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung von Jesiden.

 

Schlagwörter: Türkei, Jesiden, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Änderung der Sachlage, Sicherheitslage, Situation bei Rückkehr, Übergriffe, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative, Zumutbarkeit, Westtürkei
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung von Jesiden.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG muss das Bundesamt die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (früher: Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz - AuslG - bzw. des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - vorliegen) unverzüglich widerrufen, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen.

Ist ein Asylberechtigter wegen Gruppenverfolgung als Asylberechtigter anerkannt, ist im Falle des Widerrufs der Asylberechtigter regelmäßig der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden. Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht Göttingen (Urt. v. 22.6.1999, a.a.O.) mit der Begründung, der Kläger habe eine individuelle Vorverfolgung nicht glaubhaft gemacht, den allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde gelegt. Ob der Asylberechtigte im Heimatland konkreten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt war, ist im Falle der Gruppenverfolgung insoweit ohne Belang. Bei einer früheren Gruppenverfolgung ist jeder Gruppenangehörige ohne Rücksicht darauf als vorverfolgt anzusehen, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen in seiner Person verwirklicht hatten (stRspr des BVerwG, vgl. Urt. v. 18.7.2006 - 1 C 15.05 -; Urt. v. 24.11.1992 - 9 C 3.92 -; Urt, v. 23,2.1988 - 9 C 85.87 = BVerwGE 79, 79). Zur Begründung führt das Bundesverwaltungsgericht aus, im Fall der Gruppenverfolgung habe jedes einzelne Gruppenmitglied allein deswegen, weil es die Gruppenmerkmale aufweist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung zu befürchten. Jeder Gruppenangehörige sei unter dieser Voraussetzung als konkret gefährdet anzusehen. Daher sei bei ihnen sind dieselben Anforderungen an die Zumutbarkeit der Rückkehr in das Verfolgerland zu stellen wie bei denjenigen, die einen Eingriff physisch erlitten hätten. In Konsequenz dieser Erkenntnis seien auch denjenigen als vorverfolgt anzusehen, die unter dem Druck einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Individualverfolgung ausgereist seien.

In Anwendung dieser Grundsätze erweist sich der angefochtene Bescheid als rechtswidrig, da die Voraussetzungen für einen Widerruf nicht vorliegen. Zwar stimmt das Gericht mit der Beklagten in der Einschätzung überein, dass sich die Lage der Yeziden seit 1999 durchaus verändert hat. Derzeit kann trotz der Veränderungen in der Türkei bei rückkehrenden Yeziden jedoch (noch) nicht von einer hinreichenden Sicherheit vor künftiger politischer Verfolgung ausgegangen werden. Hierzu fehlt es an Belegen, die auf eine nachhaltige und dauerhafte Veränderung schließen lassen.

Eine nach § 73 Abs. 1 AsylVfG relevante Veränderung der maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse ist seit der Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten nicht eingetreten.

Dies gilt zunächst für die Frage, ob in Bezug auf die in der Türkei verbliebenen Yeziden noch von einer Gruppe im asylrechtlichen Sinne gesprochen werden kann. Die Gruppe der in der Türkei siedelnden Yeziden stellen sich auch heute noch als eine Gruppe im asylrechtlichen Sinne, also im Sinne der Rechtsprechung zur Gruppenverfolgung dar.

Hier kann offen bleiben, ob derzeit nur 363 oder 2000 Yeziden in der Türkei leben, denn die in der Türkei siedelnden Yeziden stellen ungeachtet dessen eine Gruppe im asylrechtlichen Sinne dar (a.A. OVG NRW, Urt. v. 31.8.2007 - 15 A 994/05.A -; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 5.6.2007 - 4 K 493/06 -). Für die Frage, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung zu setzen. Denn eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten möglicherweise bereits als bedrohlich erweist, kann bei einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen, weil sie in Bezug auf die Zahl der Gruppenmitglieder nicht ins Gewicht fällt und sich deshalb nicht als Bedrohung der Gruppe darstellt (BVerwG, Urt. v. 5.7.1994 - 9 C 158.94 - = BVerwGE 96, 200 (206), Beschl. v. 22.5.1996 - 9 B 136.96 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 186). Setzt man die Anzahl der Verfolgungsschläge in Relation zur Größe der jeweils in Rede stehenden Gruppe, wird dadurch unterschiedlichen Gruppenstärken Rechnung getragen und hat zu Folge, dass dieser Maßstab auch auf kleine Gruppen angewendet werden kann (zu Yeziden in der Türkei: vgl. BVerwG, Beschl, v. 5.1.2007 - 1 B 59.06 - zitiert nach juris).

Auch hat sich die Lage der Yeziden in der Türkei seit dem 22.6.1999 nicht so verändert, dass sie heute im Falle ihrer Rückkehr als hinreichend sicher vor mittelbarer politischer Verfolgung anzusehen sind. Dabei ist sich das Gericht durchaus bewusst, dass die neuere Rechtsprechung bei dieser Einschätzung zu divergierenden Ergebnissen kommt (hinreichende Verfolgungssicherheit verneint: OVG Schl.-Holst., Beschl. v. 22.08.2007 - 4 LA 40/07; VG München, Urt. v. 29.05.2008 - M 24 K 07.50922 -; VG Saarland Urt. v. 14.02.2008 - 6 K 378/07 und 6 K 400/07 -; VG Stuttgart, Urt. v. 12.2.2008 - A 9 K 6125/07 -; Urt. v. 31.03.2008 - A 11 K 948/08 -; VG Freiburg, Urt. v. 18.03.2008 - A 4 K 61/07, Urt. v. 10.7.2007 - A 6 K 737/06 -; a.A., hinreichende Verfolgungssicherheit bejaht: z.B. OVG NRW, Urt. v. 29.8.2007 - 15 A 4600/03 -; OVG Rh.-Pf., Urt. v. 17.7.2007 - 11 LB 332/03 -; VG Hannover, Urt. v. 19,12.2007 - 1 A 3097/06 -).

Die Gefahr von Übergriffen durch die muslimische Bevölkerungsmehrheit auf zurückkehrende Yeziden erscheint nach wie vor nicht ausgeschlossen. Dabei ist vor allen Dingen in den Blick zu nehmen, dass die Zahl der in der Türkei verbliebenen Yeziden außerordentlich gering ist und dieser Umstand der Tatsache geschuldet ist, dass viele Yeziden in der Zeit von 1985 bis 2000 die Türkei verfolgungsbedingt verlassen haben. In dieser Zeit ist die Zahl der dort siedelnden Yeziden von 22632 auf 500 gesunken (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Niedersachsen vom 26.1.2007). Selbst wenn inzwischen wieder einige Yeziden zurückgekehrt sein sollten, so gibt diese Entwicklung noch keinen Anlass zu der Annahme, dass sich in den angestammten Siedlungsgebieten der Yeziden wieder ein "yezidisches Leben" entwickelt hat.

Die Situation der verbliebenen und vereinzelt zurückgekehrten Yeziden stellt sich aus Sicht des Gerichts derzeit wie folgt dar:

Die Sicherheitslage hat sich im Südosten der Türkei seit dem Ende der dort früher herrschenden bürgerkriegsähnlichen Zustände erheblich verbessert. Zumindest vor dem Wiederauflammen der Kämpfe zwischen dem türkischen Militär und der PKK aber hatte sich die Sicherheitslage wohl soweit beruhigt, dass etliche Yeziden zumindest besuchsweise ihre Heimat bereist haben. Allein die Tatsache, dass diese Besuchsreisen weitgehend gewaltfrei verlaufen sind, lässt jedoch nach Auffassung des Gerichts nicht den Schluss zu, dass Yeziden auch im Falle ihrer endgültigen Rückkehr hinreichend sicher sein würden, insbesondere, wenn Yeziden in größerem Ausmaße zurückgeführt werden würden.

Aus den Auskünften des Yezidischen Forums e.V. Mala Ezidiyan Oldenburg (Yezidisches Forum e.V.) vom 5.2.2006 und 4.7.2006 ergibt sich, dass es auch derzeit erneut zu Konflikten kommt, wenn zurückkehrende Yeziden auf ihre Eigentumsrechte beharren. Dass es sich, wie die Beklagte meint, bei den geschilderten Streitigkeiten lediglich um die in der Türkei in Grundstückssachen üblichen Streitereien handelt, wie sie sich ungeachtet der Religionszugehörigkeit regelmäßig abspielen würden, wenn Menschen ihren Grundbesitz zurückfordern würden, erscheint dem Gericht aufgrund der Auskünfte des Yezidischen Forums e.V. zumindest fraglich. Gerade in den ländlichen Gebieten im Südosten der Türkei ist die Macht und der Einfluss der in ihren Interessen durch die Rückkehr der Yeziden betroffenen muslimischen Großgrundbesitzer sehr groß (vgl. Gutachten Aydin an das Verwaltungsgericht Berlin vom 13.4.1999). In den ländlichen Gebieten herrschen oft noch traditionelle Lebensformen vor (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.2007). Auch wenn es Yeziden in jüngster Zeit es und z.T. sogar unter Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes möglich gewesen war, ihre Eigentumsrechte durchzusetzen, kann doch nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden, dass sie, wenn sie in größerer Zahl in die Türkei zurückkehren, den Übergriffen der Muslims in ihrer Umgebung nicht doch - wie früher - schutzlos ausgesetzt wären.

Diese Zweifel sind vor allem deswegen angebracht, als vom Auswärtigen Amt auch von einem Fall berichtet wird, der ein Einschreiten der türkischen Behörden zum Schutz yezidischen Grundbesitzes durchaus erfordert hätte (AA, Auskunft an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht v. 26.1.2007). Aus dem Bericht geht hervor, dass während der Räumung des Dorfes Kivag einige muslimische Kurden die Wasser- und Stromversorgung des Dorfes beschädigt hätten. Diese seien zwischenzeitlich wieder instandgesetzt worden. Die Finanzierung der Reparaturarbeiten sei den eingeholten Auskünften des Auswärtigen Amtes zufolge von in Deutschland ansässigen Yeziden getragen worden. Um das Dorf vor Fremden zu schützen, hätten in Deutschland lebende Yeziden zwei Wächter aus der Region eingestellt. Diese seien bewaffnet und würden das Dorf bewachen. Daraus wird deutlich, dass - selbst auf hoheitlicher Anordnung von der muslimischen Bevölkerung geräumte - yezidische Dörfer durch privat finanzierte Sicherheitsleute der Yeziden bewacht werden müssen, um wiederholte Landnahmen zu verhindern. Und angesichts dessen sind durchaus Zweifel angebracht, ob die türkischen Behörden in der Lage oder Willens sind, rückkehrenden Yeziden diesen Schutz zu gewähren.

Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25.10.2007 enthält wenig Informationen zur Lage der Yeziden. Insbesondere enthält er aber keine weitergehenden Hinweise zu der Frage, ob der türkische Staat durch aktive Maßnahmen die Wiedereingliederung yezidischer Flüchtlinge in die türkische Gesellschaft fördert und er der muslimischen Bevölkerungsmehrheit in eindeutiger Weise vor Augen geführt hat, dass er religiös motivierte Übergriffe nicht mehr hinnehmen, sondern strafrechtlich verfolgen wird. Der türkische Staat hat sich in der Vergangenheit als für die Verfolgung mittelbar verantwortlich erwiesen. Auf dessen Schutz darf der vor dieser Verfolgung geflohene und anerkannte Asylberechtigte nur verwiesen werden, wenn eine hinreichende Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit tatsächlich besteht (vgl. VG Saarland, Urt. v. 14.2.2008 - 6 K 400/07 -). Bislang fehlt es jedoch sowohl an entsprechenden Garantieerklärungen des türkischen Staates, die eine Religionsfreiheit der Yeziden garantieren würden, noch wurden öffentlichkeitswirksame Schutzmaßnahmen für Rückkehrer bekannt. Somit fehlt es an wesentlichen Voraussetzungen für die Annahme, dass tatsächlich eine nachhaltige und auf Dauer angelegte positive Veränderung im Verhältnis der muslimischen Mehrheit zur Minderheit der Yeziden eingetreten ist.

Auch kann dem Kläger eine Übersiedlung insbesondere in andere Gebiete der Türkei, in dem keine Übergriffe drohen sollen, nicht zugemutet werden, da dort sein religiöses Existenzminimum weiterhin nicht gewährleistet ist (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.01.1991 - A 12 635/89 -). Insbesondere die Möglichkeit einer Wohnsitznahme in der Westtürkei kommt deshalb nicht in Betracht, weil sich aus den Erkenntnismitteln ergibt, dass Yeziden dort wegen ihrer Religion, Herkunft und Kultur nicht überleben können und sich dort weniger als ein Dutzend Yeziden aufhalten. Auch da der Kläger glaubhaft vorgetragen hat, seinen Glauben zu praktizieren, wäre ihm eine Glaubensausübung im Westen der Türkei mangels Sheikh nicht möglich (vgl. Azad Baris, Stellungnahme an das OVG Sachsen-Anhalt vom 17.4.2006; Yezidisches Forum e.V. Stellungnahme an das OVG Niedersachsen v. 4.7.2006).