VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 20.08.2008 - 8 AE 356/08 - asyl.net: M13853
https://www.asyl.net/rsdb/M13853
Leitsatz:

Der Eilrechtsschutz ist nur dann gem. § 34 a Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen des § 34 a Abs. 1 AsylVfG tatsächlich vorliegen; tritt das Bundesamt in die sachliche Prüfung eines Asylantrags ein, indem es den Antragsteller zu seinen Fluchtgründen befragt, macht es von seinem Selbsteintrittsrecht gem. Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-Verordnung Gebrauch.

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Verordnung Dublin II, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, vorbeugender Rechtsschutz, Vorwegnahme der Hauptsache, Selbsteintrittsrecht, Anhörung, sachliche Prüfung, Griechenland (A), Verfahrensrichtlinie, Aufnahmebedingungen, Dublin II-VO, Dublinverfahren,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2; VwGO § 123 Abs. 1; GG Art. 19 Abs. 4; AsylVfG § 34a Abs. 1; AsylVfG § 27a; VO Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 2; VO Nr. 343/2003 Art. 16 Abs. 1; AsylVfG § 25
Auszüge:

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

Der Statthaftigkeit des Antrages steht § 34 a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Danach darf die Abschiebung nach Abs. 1 der Vorschrift nicht nach § 80 oder 123 VwGO ausgesetzt werden. Dies ist jedoch im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG so auszulegen, dass die Voraussetzungen des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG tatsächlich gegeben sein müssen, das heißt, es muss um die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung das Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylVfG) gehen. Nur wenn diese Voraussetzungen materiell-rechtlich vorliegen, nicht aber wenn ihr Vorliegen lediglich behauptet wird, kann der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes greifen. Soll der Ausländer nicht in einen nach § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG für sein Asylverfahren zuständigen Staat abgeschoben werden, ist 34 a Abs. 2 AsylVfG nicht anwendbar. So liegt es hier.

Die Antragsgegnerin beabsichtigt laut dem in der Akte befindlichen Entwurf eines Bescheides vom 08.07.2008, der dem Antragsteller im Zeitpunkt seiner Abschiebung ausgehändigt werden soll, den Antragsteller nach Griechenland als für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abzuschieben. Griechenland ist jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt für die vorliegende Entscheidung - das ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts - nicht (mehr) für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig. Zwar hat der Antragsteller dort am 17.08.2007 bereits einmal die Anerkennung als Asylberechtigter beantragt, so dass Griechenland nach Art. 13 EG-AsylZustVO - Dublin II - als erster Mitgliedsstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig ist. Nach Art. 3 Abs. 1 EG-AsylZustVO prüft das nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmte Mitglied den Asylantrag von Drittstaatsangehörigen. Jedoch kann nach Abs. 2 dieses Artikels jeder Mitgliedsstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Diese Prüfung des Asylantrages hat zur Folge, dass der Mitgliedsstaat dadurch zum zuständigen Mitgliedsstaat im Sinne der Verordnung wird und die mit der Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen übernimmt. Dies ist das sogenannte Selbsteintrittsrecht der Mitgliedsstaates. Diese Folge tritt durch die Prüfung des eingereichten Asylantrags ein. Die in Satz 3 der Vorschrift genannten Informationspflichten sind dagegen nicht konstitutiv für den Übergang der Zuständigkeit nach Satz 2 infolge der Prüfung. Dieses Selbsteintrittsrecht des Art. 3 Abs. 2 EG AsylZustVO hat die Antragsgegnerin im vorliegenden Fall wahrgenommen, denn sie hat den Asylantrag des Antragstellers sachlich geprüft, so dass die Zuständigkeit europarechtlich auf sie übergegangen ist. In einer zweifelsfrei sachlich-inhaltlichen Anhörung des Asylbewerbers zu den eigentlichen Fluchtgründen ist nämlich eine Prüfung des Asylantrags und damit eine Ausübung des Selbsteintrittsrechts zu sehen. Eine Anhörung zur Sache ist der Beginn der sachlichen Prüfung, die in eine Entscheidung über den Asylantrag mündet. Auch aus Art. 16 Abs. 1 b EG-AsylZustVO, wonach der zuständige Mitgliedstaat die Prüfung des Asylantrags abzuschließen hat, lässt sich ableiten, dass nicht erst die Entscheidung über den Asylantrag eine Prüfung im Sinne EG-AsylZustVO bedeutet, sondern bereits die auf die Prüfung des Asylanspruchs gerichtete Anhörung zur Sache. Anders dürfte eine Anhörung zu werten sein, die nur der Ermittlung des Reisewegs und damit zunächst typischerweise nur der Feststellung des zuständigen Vertragsstaats dienen soll (Funke-Kaiser in AsylVfG Gemeinschaftskommentar § 27 a Rn. 79) oder die lediglich klären soll, ob humanitäre Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts durch die Antragsgegnerin vorliegen.

Vorliegend hat die Antragsgegnerin den Asylantrag des Antragstellers zweifelsfrei in der Sache geprüft. Sie hat ihn nämlich zweimal intensiv zu seinen Asylgründen vernommen, einmal am 04.04.2008 und einmal am 07.04.2008. Dabei hat sie sich nicht auf die Prüfung der Reisewege oder auf humanitäre Gründe als Grundlage ihres Selbsteintrittsrechts beschränkt. Sie hat ihn in formeller Anhörung nach § 25 AsylVfG vielmehr ausdrücklich und ausführlich nach seinem Verfolgungsschicksal und seinen Asylgründen befragt, nachdem sie zunächst nur den Reiseweg erkundet hat, und ihm vielfach Vorhalte gemacht. Sie hat ihn belehrt, dass er alle Umstände darlegen muss, die seine Verfolgungsfurcht begründen, und ihn auf die Folgen verspäteten Vorbringens hingewiesen. Sie wollte sogar ausdrücklich wissen, ob er Einwände gegen die Prüfung des Asylbegehrens in Deutschland habe (Frage Nr. 24). Dieses Vorgehen, das sich in nichts von dem üblichen gerichtsbekannten Prüfungsverfahren der Antragsgegnerin zur Entscheidung von Asylanträgen unterscheidet, bedeutet eine Prüfung des eingereichten Asylantrages gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 EG-AsylZustVO mit der dort vorgesehenen Folge, dass die Bundesrepublik Deutschland zum zuständigen Mitgliedsstaat für die Prüfung des Asylbegehrens des Antragstellers geworden ist. Das nach Abschluss dieser Anhörungen am 10.04.2008 an den Staat Griechenland gerichtete Wiederaufnahmegesuch konnte angesichts der zuvor eingetretenen Zuständigkeit der Antragsgegnerin nicht mehr die Fiktionswirkung der Art. 17 ff. EG-AsylZustVO entfalten. Vielmehr war die Antragsgegnerin gehalten, mit dem Antragsteller nach Art. 18 EG-AsylZustV zu verfahren, insbesondere nach dessen Abs. 1 b die Prüfung das Asylantrags nach dem AsylVfG mit den dort vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten abzuschließen. Sie kann nicht stattdessen den Antragsteller im "kurzen Prozess" in das unzuständige Griechentand abschieben, ohne dass dieser dagegen gerichtlichen Eilrechtsschutz erlangen könnte.

Mittels der mangels Eingreifens des § 34 a Abs. 2 AsylVfG zulässigen einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO sind schwerwiegende Nachteile vorn Antragsteller abzuwenden, die durch seine Abschiebung in das für sein Asylverfahren unzuständige Griechenland entstehen würden. Denn mit der Abschiebung nach Griechenland drohen dem Antragsteller unzumutbare Nachteile, nämlich menschenrechtswidrige Verhältnisse in den dortigen Asylbewerberlagern und ein auch nicht annähernd rechtlichen Mindeststandards entsprechendes Asylverfahren. Dies ist mit der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung hinreichend hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (hinsichtlich der Einzelheiten vgl. Frankfurter Rundschau, Bericht vom 06.08.2008; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 19.06.2008; NZZ Online, Bericht vom 19.04.2008; UNHCR Positionspapier zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland nach der Dublin II-Verordnung vom 15.04.2008 sowie die Darstellungen in den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 23. Juni 2008 - Az. A 3 K 1412/08; des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 8. Juli 2008 - Az 6 B 30/08; des Verwaltungsgerichts Gießen vom 25.04.2008 - Az. 2 L 201/08.GI.A; des VG Ansbach vom 22. Juli 2008 - Az. AN 3 E 08.30292).