SG Hildesheim

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Zitieren als:
SG Hildesheim, Beschluss vom 14.08.2008 - S 42 AY 105/08 ER - asyl.net: M13856
https://www.asyl.net/rsdb/M13856
Leitsatz:

Zeiten des Bezug von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zählen bei der 48-Monats-Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG mit.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, 48-Monats-Frist, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Rechtsmissbrauch, Pflege, Familienangehörige, Schutz von Ehe und Familie, Kausalität, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: SGG § 86b Abs. 2; AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Zeiten des Bezug von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zählen bei der 48-Monats-Frist des § 2 Abs. 1 AsylbLG mit.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

Auch das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist glaubhaft gemacht worden. Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das Zwölfte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsyIbLG erhalten haben und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Davon dass der Antragsteller die 48-monatige sog. Vorbezugszeit mehr als erfüllt hat, geht das Gericht - im Gegensatz zum Antragsgegner - aus.

Der Antragsteller hatte am 1. Juni 2008; dem Beginn des streitigen Leistungszeitraums, zunächst 36 Monate - und zwar vom 5. April 2002 bis zum 4. April 2005 - Leistungen gemäß § 3 AsylbLG bezogen. Sodann kam es zu einer Leistungsumstellung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG bis zum 30. Mai 2008. Diese weiteren 36 Monate sind ebenfalls als Vorbezugszeit zugunsten des Antragstellers anzurechnen. Die Kammer folgt hinsichtlich der rechtsdogmatischen Begründung ihrer Auffassung der überzeugenden Rechtsprechung des 11. Senates des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen. In seinem Beschluss vom 18. März 2008 (L 11 AY 82/07, Internetdatenbank der Sozialgerichtsbarkeit) hat der Senat u.a. ausgeführt: ...

Soweit der Antragsgegner darauf hinweist, dass das Bundessozialgericht mit Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9 b AY 1/07 R - wohl eine andere Rechtsauffassung geäußert habe, ist dies derzeit noch Spekulation. In diesem Zusammenhang hat das BSG nämlich nur in einem Bericht über das Urteil in den Medieninformationen Nr. 25/08 ausgeführt:

"Bei der Voraussetzung der Vorbezugszeit handelt es sich auch nicht um eine Wartezeitregelung, deren Voraussetzungen schon erfüllt wären, wenn der Ausländer andere Sozialleistungen als die Grundleistungen nach § 3 AsylbLG oder überhaupt keine Sozialleistungen bezogen hat."

Die Kammer vermag - ohne die vollständige Begründung des Urteils gelesen zu haben - dieser Formulierung des BSG nicht zu entnehmen, dass ein Ausländer damit definitiv über einen Zeitraum von 48 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen haben muss, um einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG zu haben. Ob und inwieweit diese Interpretation der Entscheidung, die der Antragsgegner vornimmt, tatsächlich zutrifft und ob sie die verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 3 GG (vgl. hierzu LSG Hessen, Beschluss vom 21.03.2007 - L 7 AY 14/06 ER -) beachtet, ist noch offen. Deshalb sieht sich die Kammer derzeit nicht veranlasst, ihre oben dargelegte Rechtsauffassung zu ändern.

Dem Antragsteller kann auch nicht mehr der rechtsvernichtende Einwand des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens vorgehalten werden. Vielmehr spricht Überwiegendes dafür, so dass die (kategorische) Weigerung des Antragstellers, sich eine Rückkehrbescheinigung von der russischen Botschaft ausstellen zu lassen und damit freiwillig in seine Heimat zurückzukehren, - zumindest ab April 2005 - nicht als rechtsmissbräuchliches (sozialwidriges) Verhalten zu bewerten sein dürfte. Aus einem Aktenvermerk des Antragsgegners (Bl. 14 der Beiakten) vom 05.04.2005 geht hervor, dass der Antragsteller seine am 4. April 2008 verstorbene Großmutter betreuen/pflegen wollte und dies vom Antragsgegner zur Vermeidung hoher Heim- und Pflegekosten ausdrücklich begrüßt wurde. Dieser (humanitäre) Grund für den weiteren Verbleib des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland stellt nicht ein (auch vom BSG in der Entscheidung vom 17.06.2008 angesprochenes) sozialwidriges und damit anspruchsvernichtendes Verhalten dar. Weiter kausal für den Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland trotz bestehender Ausreiseverpflichtung war die (nach Angaben des Antragstellers seit ca. 5 1/2 Jahren bestehende) familiäre Lebensgemeinschaft mit der deutschen Staatsangehörigen ... und deren siebenjähriger Tochter ...

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen kann die Kammer nicht feststellen, dass das frühere (vor April 2005) rechtsmissbräuchliche Verhalten des Antragsteller noch fortwirkt. Nur dann könnte ein Fehlverhalten nach der Rechtsprechung des 11. Senates des LSG Niedersachsen-Bremen überhaupt geeignet sein, den rechtsvernichtenden Einwand der Rechtsmissbräuchlichkeit i.S. von § 2 Abs. 1 AsylbLG zu begründen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteile vom 16. Oktober 2007, Az: L 11 AY 28/05, 50/06, 55/07 anhängig beim BSG, Az: B 8 AY 6 bis 8/07 R; Urteil vom 16. Oktober 2007, L 11 AY 61/07, anhängig beim BSG, Az: B 8 AY 9/07 R). Das kausale und im Grundsatz dem Antragsteller auch vorwerfbare Verhalten, an der Beschaffung der für eine Rückführung erforderlichen Personaldokumente nicht mitzuwirken, wirkt im hier streitgegenständlichen Leistungszeitraum wie dargelegt nicht mehr fort.