VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Beschluss vom 13.08.2008 - 5 B 73/08 - asyl.net: M13867
https://www.asyl.net/rsdb/M13867
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Widerruf, Niederlassungserlaubnis, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug, Ermessen, Schutz von Ehe und Familie, Kinder, volljährige Kinder, Behinderte, Pflege
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4; AufenthG § 52 Abs. 1; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

A. Der Antrag hat Erfolg. Hinsichtlich der Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Verfügung vom 11.07.2008 ist der als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) statthafte vorläufige Rechtsschutzantrag zulässig und begründet.

1. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das private Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das öffentliche Vollziehungsinteresse. Der Bescheid des Antragsgegners vom 18.04.2008 ist nicht offensichtlich rechtmäßig; nach summarischer Prüfung bestehen vielmehr erhebliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit, da er an einem Ermessensfehler leiden dürfte. Der Antragsgegner hat den schutzwürdigen familiären Belangen der Antragstellerin und ihres behinderten Sohnes nicht ausreichend Rechnung getragen. Die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene Wertentscheidung zum Schutz der Familie verpflichtet den Staat dazu, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigter Weise im Bundesgebiet aufhalten, angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Schutz der Familie umfasst auch die familiären Bindungen zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern. Zwar verlieren die wechselseitigen familiären Bindungen mit zunehmenden Alter der Kinder grundsätzlich an Gewicht, bis diese mit Eintritt der Volljährigkeit die vollständige rechtliche Selbständigkeit erhalten und ein eigenständige Leben führen können (Nds. OVG, Beschluss vom 10.01.2007, 10 ME 264/06, juris Rn. 9); daher stehen familiäre Bindungen zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern aufenthaltsbeendenden Maßnahmen regelmäßig nicht entgegen. Ausnahmsweise kann diesen jedoch dann überwiegende Bedeutung zukommen, wenn ein Familienangehöriger auf Grund einer schwerwiegenden Erkrankung oder Behinderung auf die persönliche Lebenshilfe eines anderen Familienangehörigen angewiesen ist. Dabei kommt es nur darauf an, ob die familiäre Lebenshilfe tatsächlich erbracht wird, jedoch nicht darauf, ob sie auch durch andere Personen erfolgen könnte (BVerfG, Beschluss vom 01.08.1996, 2 BvR 1119/96, juris Rn. 5; BVerfG, Beschluss vom 14.12.1989, 2 BvR 377/88, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 02.11.2006, 11 ME 197/06, juris Rn. 10). Denn das Wesen der Familie wird durch die persönliche und direkte Lebenshilfe der Angehörigen geprägt; im Falle des Verhältnisses zwischen Eltern und ihren Kindern ergibt sich die persönliche Beistandspflicht bereits aus dem Gesetz (§ 1618a BGB).

Die Erwägung des Antragsgegners im Bescheid vom 18.04.2008, dass nicht nachvollziehbar sei, weshalb die Pflege ihres behinderten Sohnes exklusiv durch die Antragstellerin übernommen werden müsse, wird diesen Grundsätzen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie nicht gerecht. Die Übernahme der Pflege durch andere Angehörige oder einen Pflegedienst kann die familiäre Lebenshilfe der Antragstellerin als Mutter nicht ersetzen. Solange über den Widerruf der Niederlassungserlaubnis ihres Sohnes nicht entschieden worden ist und dieser sich daher berechtigter Weise im Bundesgebiet aufhält, wird der Antragsgegner die Antragstellerin auch nicht ohne weiteres auf eine gemeinsame Ausreise in die Türkei verweisen können. Der Antragsgegner wird in diesem Falle vielmehr in seine Ermessensentscheidung einstellen müssen, dass der Antragstellerin ohnehin eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte zu erteilen wäre, ohne dass dem die mangelnde Sicherung des Lebensunterhalts entgegensteht (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 02.11.2006, 11 ME 197/06 juris Rn. 10-12, 21).

2. Abgesehen davon ist auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtswidrig. Es fehlt am besonderen öffentlichen Vollziehungsinteresse i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO.

Die einwanderungspolitischen Belange der Aufenthaltsbeendigung und Verhinderung einer weiteren Aufenthaltsverfestigung von sich unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländern vermögen die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung von vornherein nicht zu rechtfertigen. Denn sie haben bereits in der gesetzgeberischen Entscheidung Berücksichtigung gefunden, keinen gesetzlichen Sofortvollzug, sondern stattdessen die Wirksamkeit eines die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendenden Verwaltungsakts unabhängig von der aufschiebenden Wirkung der Klage (§ 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) anzuordnen (vgl. VGH BW, Beschluss vom 11.02.2005, 11 S 1170/04, juris Rn. 3).

Das fiskalische Interesse an der Unterbindung der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel während des anhängigen Gerichtsverfahrens kann zwar grundsätzlich geeignet sein, die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu begründen (Nds. OVG, Beschluss vom 05.03.2007, 10 ME 64/07, juris Rn. 13). Jedoch sind dabei auch die besonderen persönlichen Lebensumstände des Ausländers zu berücksichtigen (OVG Schl.-Hol., Beschluss vom 18.12.2006, 4 B 45/06, juris Rn. 28). Hier überwiegen aus den zuvor genannten Gründen die schutzwürdigen Interessen der Antragstellerin an der Erhaltung des Suspensiveffekts die fiskalischen Interessen an der sofortigen Vollziehung, erheblich. Darüber hinaus hat der Antragsgegner die familiären Belange der Antragstellerin nicht in die Sofortvollzugsanordnung eingestellt.