VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 19.08.2008 - Au 4 K 08.30067 - asyl.net: M13876
https://www.asyl.net/rsdb/M13876
Leitsatz:

Trotz Verbesserung der Menschenrechtslage im Zuge gesetzgeberischer Reformen keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, PKK, Kurden, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Folter, Rücknahme, Umdeutung, Verpflichtungsurteil, Urteil, Rechtskraft, Wiederaufnahme des Verfahrens
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 153
Auszüge:

Trotz Verbesserung der Menschenrechtslage im Zuge gesetzgeberischer Reformen keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Maßgebend ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Abzustellen ist deshalb auf § 73 AsylVfG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970).

Hiervon ausgehend erscheint der angefochtene Bescheid des Bundesamts trotz der zwischenzeitlichen Verbesserung der Verhältnisse in der Türkei jedoch nicht als rechtens. Der Kläger wurde wegen in der Türkei tatsächlich erlittener und zum Zeitpunkt seiner Ausreise unmittelbar drohender Verfolgung als Asylberechtigter anerkannt. Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 3. Januar 2002, wohl aber aus dem Verpflichtungsurteil des VG Gelsenkirchen vom 20. November 2001. Danach hat der Kläger in der Türkei in der Jugendorganisation der PKK mitgearbeitet und wurde deshalb von türkischen Sicherheitskräften eine Woche festgehalten, misshandelt und gefoltert. Dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei vor entsprechenden asylrelevanten Übergriffen hinreichend sicher ist, kann der Begründung des angefochtenen Bescheids nicht überzeugend entnommen werden.

Eine durch einen Systemwechsel ("Umsturz") verursachte grundlegende Veränderung, wie es dem Gesetzgeber vorrangig vor Augen stand, hat in der Türkei ohne Zweifel nicht stattgefunden.

Es kann allerdings nicht übersehen werden, dass in der Türkei in den letzten Jahren - im Zusammenhang mit den türkischen Bemühungen, die Kriterien für einen Beitritt zur Europäischen Union zu erfüllen - erhebliche gesetzgeberische Anstrengungen in acht Gesetzespaketen zur Verbesserung der Menschenrechtslage stattgefunden haben (z.B. Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des nationalen Sicherheitsrates, Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als türkisch, die Benutzung dieser Sprachen in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelung zur Erschwerung von Parteiverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter). Dies trägt jedoch noch nicht die Annahme, dass für den vorverfolgt ausgereisten Kläger Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sind. So ergeben sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln, insbesondere auch aus den (letzten) Lageberichten des Auswärtigen Amts vom 11. Januar 2007 und vom 25. Oktober 2007, dass der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo nicht hat Schritt halten können. In Bezug auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten sind nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Eine praktische Umsetzung der Reformen in die tägliche Verwaltungs- und Gerichtspraxis ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - insbesondere auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Die Menschenrechtslage bleibt nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurück. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden, wobei es insbesondere an einer effizienten strafrechtlichen Verfolgung von Folter und Misshandlungsdelikten mangelt. Gerichte verwerten immer noch Geständnisse, die unter Folter erpresst worden sind. Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen, doch wurde im Jahr 2007 erneut ein Anstieg um 40 Prozent der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung - gegenüber dem Vorjahr - festgestellt.

Die Lage in der Türkei hat sich auch nicht entspannt, sondern eher verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind. Eine weitere Verschärfung der Situation im Südosten der Türkei wurde durch ein von Gendarmerie-Angehörigen verübtes Bombenattentat auf einen kurdischen Buchladen in der Stadt Semdinli im Herbst 2005 ausgelöst wobei es im Anschluss daran zu zahlreichen gewaltsamen Protesten der kurdischen Bevölkerung in der Region kam. Ein weiterer Höhepunkt der jüngsten Spannungen wurde nach den friedlich verlaufenen Newroz-Feierlichkeiten erreicht, als es zwischen dem 28. und 31.03.2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten der Türkei zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten sowie türkischen Sicherheitskräften kam. In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament im Sommer 2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.

Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Asylanerkennung und Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (jetzt: Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) nicht weggefallen sind (ebenso der überwiegende Teil der in den letzten Monaten bekannt gewordenen verwaltungsgerichtlichen Gerichtsentscheidungen).

Der angefochtene Bescheid kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Rücknahme statt eines Widerrufs aufrecht erhalten werden. Der Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft steht bereits die Rechtskraft des Urteils des VG Gelsenkirchen vom 20. November 2001 entgegen, durch das die Beklagte verpflichtet worden ist den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Die Rücknahme der Asylanerkennung sowie der Flüchtlingseigenschaft ist aber nur möglich, wenn die Rechtskraft dieses Urteils beseitigt wurde. Dies setzt eine rechtskräftige Entscheidung in dem dafür vorgesehenen Verfahren nach § 153 VwGO voraus. Ein solches Wiederaufnahmeverfahren wurde bislang jedoch nicht eingeleitet.