VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 12.08.2008 - 2 K 122/08 - asyl.net: M13997
https://www.asyl.net/rsdb/M13997
Leitsatz:

Kein nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak; keine extreme allgemein Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG.

 

Schlagwörter: Irak, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Nordirak, Erreichbarkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Kein nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak; keine extreme allgemein Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Klage bleibt ohne Erfolg.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.

Nicht dargetan ist zunächst, dass der Kläger sein Heimatland aus Furcht vor erlittener oder unmittelbar drohender individueller, das heißt anlassgeprägter Einzelverfolgung verlassen hat. Ebenso wenig ist der Kläger aus Furcht vor unmittelbar drohender Gruppenverfolgung ausgereist; letztere droht ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch nicht bei einer Rückkehr zum jetzigen Zeitpunkt.

Eine Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gruppenverfolgungsmaßnahmen zu werden, bestand für den Kläger wegen seiner yezidischen Religionszugehörigkeit, auf die er zur Begründung seines Schutzbegehrens im Wesentlichen abstellt, weder im Zeitpunkt seiner Ausreise noch besteht sie heute. Vielmehr hat es auch unter Berücksichtigung der bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zugegangenen Erkenntnisse bei der Rechtsprechung zu verbleiben, wonach yezidische Glaubensangehörige im Irak keiner Gruppenverfolgung unterliegen (vgl. zuletzt Urteil der Kammer vom 11.01.2007 - 2 K 234/06.A -, bestätigt durch Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 26.03.2007 - 3 A 30/07 -).

Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte haben sowohl die Kammer als auch das Oberverwaltungsgericht mit den vorbezeichneten Entscheidungen verneint und dabei hat es auch nach Auswertung der weiteren Erkenntnisse zu verbleiben.

Das Oberverwaltungsgericht ist von einer Gesamtzahl der Yeziden im Irak von durchschnittlich 475.000 Menschen ausgegangen; dabei handelt es sich um einen Mittelwert, der berücksichtigt, dass die Schätzungen zwischen 200.000 und 600.000 Personen schwanken (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2007, S. 22 in Dok. Irak).

In Auswertung der zum damaligen Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.01.2007; Europäisches Zentrum für kurdische Studien vom 27.11.2006; UNHCR, Gutachten vom 09.01.2007; amnesty international, Gutachten vom 16.08.2005 und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 16.01.2006; sämtlich in Dok. Irak) hat das Oberverwaltungsgericht landesweit Übergriffe auf Yeziden festgestellt, die zahlenmäßig in der Größenordnung zwischen 60 und 137 Eingriffen liegen. Ausgehend von der höchsten festgestellten Zahl von 137 Übergriffen hat das Oberverwaltungsgericht bezogen auf die Gesamtzahl der im Irak lebenden Yeziden eine Anschlagsdichte von 1 : 3467 ermittelt. Danach konnte eine Regelvermutung zu Gunsten einer Verfolgung jedes Yeziden auch bei einer ergänzenden qualitativen Betrachtung nicht festgestellt werden, zumal die yezidische Religion wesensmäßig keine öffentliche Ausübung vor den Augen Ungläubiger erlaube, die Gläubigen also nicht in einen unausweichlichen Konflikt mit der Mehrheitsbevölkerung führe.

Legt man den Ansatz des Oberverwaltungsgerichts zugrunde und geht danach unter Einbeziehung einer Dunkelziffer von weiteren 400 asylerheblichen Übergriffen aus, ergibt sich ein Verhältnis von 537 : 475.000. Da mithin weiter mehr als 99 % der yezidischen Bevölkerung von Übergriffen verschont bleiben, sind die Anforderungen, die an die Annahme einer Regelvermutung zu stellen sind, nach wie vor nicht erfüllt. Dafür spricht auch, dass es ausweislich des der Kammer vorliegenden Erkenntnismaterials in dem Zeitraum von nahezu einem Jahr nach dem erwähnten Vorfall vom 14.08.2007 zu (terroristischen) Übergriffen dieser Art nicht mehr gekommen ist.

Die Feststellung der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht gegeben sind, kann nach allem nicht beanstandet werden.

Ob dem Kläger eine zumutbare inländische Fluchtalternative in den de jure unter der Verwaltung der kurdischen Regionalregierung stehenden Gebieten des Nordirak - insbesondere der Provinz Dohuk - offensteht, bedarf deshalb keiner abschließenden Entscheidung. Von daher muss auch der Behauptung des Klägers, aus dem Bezirk Sheikhan stammende yezidische Kurden hätten Saddam Hussein und die Baath-Partei unterstützt und würden deshalb in den Kurdengebieten des Nordiraks keine interne Fluchtalternative finden, nicht weiter nachgegangen werden.

Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass der Standpunkt der Beklagten, wonach der Kläger sich möglichen Übergriffen seitens muslimischer Extremisten durch Aufenthaltsnahme in den kurdisch verwalteten Regionen des Nordirak - insbesondere in der Provinz Dohuk - im Sinne einer zumutbaren inländischen Fluchtalternative entziehen könne, fallbezogen zutreffen dürfte.

Nach den insoweit aktuellen Erkenntnissen der Kammer (insbesondere Europäisches Zentrum für kurdische Studien an VG Köln vom 26.05.2008, Seite 39 f., in Dok. Irak) müssen einzelne männliche Flüchtlinge, die - wie der Kläger - nicht aus dem von der kurdischen Regionalregierung verwalteten Gebiet stammen (sondern aus dem de facto unter kurdischem Einfluss stehenden Gebiet) für die Einreise und die Niederlassung unabhängig von ihrer Ethnizität einen Bürgen benennen. Der Sponsor kann sowohl eine Einzelperson sein, als auch eine Firma. Er muss versichern, den Antragsteller zu kennen und ist Ansprechpartner für Sicherheitsfragen. Der Bürge muss in Dohuk für den Erhalt von Lebensmittelkarten registriert sein und über einen "guten Ruf" verfügen. In Dohuk soll es vereinzelt Ausnahmen von der Sponsoren-/Bürgenregelung geben, sofern die KDP in der Lage ist, über ihren Sicherheitsapparat (Büros in Ninive oder Kirkuk) den Hintergrund der Antragsteller zu überprüfen, diese nicht als Gefahr für die allgemeine Sicherheit eingeschätzt werden und sie zudem glaubhaft machen können, dass sie ihre Herkunftsgebiete verlassen haben, weil sie um ihr Leben fürchten.

Das Institut für Nahost-Studien (Uwe Brocks) führt in der Stellungnahme an das VG Köln vom 07.09.2007 - in Dok. Irak - zu dieser Frage ergänzend aus, dass eine Ausweichmöglichkeit für Yeziden in die Provinz Dohuk bestehe, wobei allerdings familiäre Anknüpfungspunkte unbedingt von Nöten seien.

Vor diesem Hintergrund wäre dem Kläger ein Ausweichen in den Nordirak zumutbar. Er verfügt zum einen über familiäre Anknüpfungspunkte in der Provinz Dohuk, weil dort zwei Schwestern von ihm mit ihrer Familie leben. Diese können zum anderen nach Sachlage auch die Funktion eines Bürgen/Sponsoren für den Kläger übernehmen.

Letztlich lässt sich ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes für den Kläger auch nicht aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG oder § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG herleiten. Die Zuerkennung sowohl eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG als auch nach Satz 2 der Vorschrift setzt grundsätzlich eine individuelle Gefährdungslage voraus. Sowohl dem Wortlaut als auch der Begründung zur Änderung des § 60 Abs. 7 AufenthG und der Einführung des neuen, seit 28.08.2007 gültigen § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist zu entnehmen, dass allgemeine Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes ausgesetzt sind, grundsätzlich nur im Rahmen einer Anordnung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind (vgl. dazu auch BayVGH, Beschluss vom 08.10.2007 - 19 CS 07/1987 -, zitiert nach juris).

Dies entspricht auch Art. 15 c der sog. Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG vom 29.04.2004, welcher für die Gewährung subsidiären Flüchtlingsschutzes ebenfalls keine allgemeine Gefahrenlage genügen lässt, sondern eine individuelle Bedrohung voraussetzt, was sich insbesondere dem Erwägungsgrund Nr. 26 vor Art. 1 der Richtlinie entnehmen lässt (vgl. zuletzt Urteil der Kammer vom 04.07.2008 - 2 K 300/08 -; BVerwG, Beschluss vom 15.05.2007 - 1 B 217/06 -; ferner VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.08.2007 - A 2 AS 229/07 -, jeweils zitiert nach juris; Hailbronner, Die Qualifikationsrichtlinie und ihre Umsetzung im deutschen Ausländerrecht, ZAR 2008, 209, 214).

Ist, wovon nach den aufgezeigten Gegebenheiten auszugehen ist, keine erhebliche individuelle Gefährdung des Klägers im Irak annehmbar, dieser vielmehr, wie die Bevölkerung seines Heimatlandes insgesamt oder zumindest einzelne Bevölkerungsgruppen, von einer allgemeinen Gefahrenlage betroffen und fehlt es an einer Anordnung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG, die Abschiebung in das Herkunftsland des Klägers generell auszusetzen, vermag eine allgemeine Gefahrenlage - unbeschadet der sonst geltenden Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG - nur dann ein zwingendes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 oder 2 AufenthG zu begründen, wenn es dem Kläger mit Blick auf den verfassungsrechtlich unabdingbar gebotenen Schutz insbesondere des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht zuzumuten ist, in sein Heimatland abgeschoben zu werden. Dies wäre dann der Fall, wenn der Kläger im Irak einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Falle seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde.

Dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Irak landesweit einer derart extremen Gefährdungslage ausgesetzt sein könnte, ist indes nicht feststellbar. Vielmehr entspricht es der gefestigten Rechtsprechung der saarländischen Verwaltungsgerichte (vgl. dazu grundlegend OVG des Saarlandes, Urteil vom 29.09.2006 - 3 R 6/06 - sowie u.a. Urteil der Kammer vom 13.03.2008 - 2 K 645/07 -), dass irakische Staatsangehörige allein wegen der allgemein im Irak bestehenden Gefahren aufgrund der unzureichenden Sicherheitslage die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht beanspruchen können. Denn ungeachtet der aufgrund anhaltender Anschläge im Irak bestehenden Gefährdung für die dort lebenden Menschen rechtfertigt die Anzahl der durch Terrorakte sowie andauernde Kampfhandlungen zu beklagenden zivilen Opfer, die sich in einer Größenordnung um 100.000 bewegen, in Relation zu der ca. 27,5 Millionen Menschen betragenden Bevölkerungszahl des Irak auch unter Berücksichtigung einer "Dunkelziffer" nicht die Annahme, jeder Iraker werde im Falle seiner Rückkehr unmittelbar und landesweit Gefahr laufen, Opfer entsprechender Anschläge oder Kampfhandlungen zu werden (vgl. zuletzt OVG des Saarlandes, Beschluss vom 12.03.2007 - 3 Q 114/06 -, wonach bezogen auf die Gesamtbevölkerung des Irak die landesweite Anschlagsdichte bei lediglich 0,37 % liegt).

Überdies haben sich Presseberichte aus dem Herbst 2007, in denen von einem Rückgang der Opferzahlen berichtet worden ist, aktuell bestätigt.

Da diese Erkenntnisse in ihrer Gesamtheit jedenfalls nicht auf eine weitere Zuspitzung der Sicherheitslage hindeuten, kann für den Kläger eine Extremgefahr im Falle seiner Rückkehr in den Irak nicht festgestellt werden, zumal besondere, in seiner Person liegende Umstände, die auf eine erhöhte Gefährdung schließen ließen, nicht ersichtlich sind.

Nach alledem ist die Klage in vollem Umfange abzuweisen.