VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 22.09.2008 - 1 A 4852/07 - asyl.net: M14001
https://www.asyl.net/rsdb/M14001
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit in der Türkei vor Verfolgung wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK; Verschlechterung der Menschenrechtslage in den letzten Jahren.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, politische Entwicklung, Reformen, Menschenrechtslage, Folter, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, Anti-Terrorismus-Gesetz, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Inhaftierung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit in der Türkei vor Verfolgung wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK; Verschlechterung der Menschenrechtslage in den letzten Jahren.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Beklagte ist aufgrund des Feststellungsurteils des VG Magdeburg nicht berechtigt, einen Widerruf oder eine Rücknahme auszusprechen. Sie kann alleine bei einer Änderung der Sachlage eine neue Sachentscheidung treffen (BVerwG, Urteil vom 23. November 1999, Az.: 9 C 16.99). Diese Voraussetzung liegt hier aber nicht vor.

Die Änderung der Sachlage ist eingetreten, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG nicht mehr vorliegen. Das Gericht wendet hierbei die Überlegungen an, die für die Anwendung des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG heranzuziehen sind.

Den Klägern wurde die die Flüchtlingseigenschaft aus den Gründen des Feststellungsurteils des VG Magdeburg vom 20. Mai 1996 zuerkannt.

Entgegen der Behauptung des Bundesamts sind seit dem Urteil des VG Magdeburg keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.

Eine durch Umsturz hervorgerufene Verbesserung der politischen Verhältnisse im Sinne eines Systemwechsels ist in der Türkei unzweifelhaft nicht eingetreten.

Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der gerichtlichen Entscheidung verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007).

Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01. Juni 2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11. Januar 2007). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen, zumal die Reformgesetze häufig durch später erlassene Ausführungsbestimmungen konterkariert wurden (vgl. Oehring, Gutachten vom 06. April 2008 an VG Stuttgart).

In der Rechtsprechung wird weiter nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. OVG Münster, Urt. v. 26. Mai 2004 - 8 A 3852/03.A - juris = Asylmagazin 10/2004, 30; Urt. v. 19. April 2005 - 8 A 273/04.A - juris -; Urt. v. 27. März 2007 - 8 A 4728105.A -juris - und Urt. v. 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A; OVG Koblenz, Urt. v. 12. März 2004 - 10 A 11952/03 - juris - = Asylmagazin 7-8/2004, 27; OVG Weimar, Urt. v. 18. März 2005 - 3 KO 611/99 -, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 29. November 2004 - 3 L.66/00 -, Asylmagazin 1-2/2005, 32; OVG Saarland, Urt. v. 01. Dezember 2004 - 2 R 23/03 -, Asylmagazin 4/2005, 30; OVG Bautzen, Urt. v. 19. Januar 2006 - A 3 B 304/03 - und Urt. v. 25. Oktober 2007 - A 3 B 238/05; VG Berlin, Urt. v. 01. März 2006, Asylmagazin 7-812006, 37 und Urt. v. 13. Oktober 2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32; VG Frankfurt, Urt. v. 02. März 2006, Asylmagazin 6/2006, 20; VG Weimar, Urt. v. 30. Juni 2005 - 2 K 20643/04 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 16. Juni 2006 - 26 K 1747/06 -; Urteil vom 24. August 2006 - 4 K 1784/06.A - juris - und Urteil vom 24. Januar 2007 - 20 K 4697/05.A - juris -; VG Ansbach, Urteil vom 06. März 2007, AuAS 2007, 141; VG Münster, Urteil vom 08. März 2007 - 3 K 2492/05.A - juris -; VG Bremen, Urt. v. 30. Juni 2005 - 2 K 1611/04 -).

Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes hat sich die Lage in der Türkei in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007). Eine weitere Verschärfung der Situation im Südosten der Türkei wurde durch ein von Gendarmerie-Angehörigen verübtes Bombenattentat auf einen kurdischen Buchladen in der Stadt Semdinli am 09. November 2005 ausgelöst (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007). Im Anschluss daran kam es zu zahlreichen gewaltsamen Protesten der kurdischen Bevölkerung in der Region (vgl. SZ vom 22. November 2005). Ein weiterer Höhepunkt der jüngsten Spannungen wurde nach den friedlich verlaufenen Newroz-Feierlichkeiten erreicht, als es zwischen dem 28. und 31. März 2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten der Türkei zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten sowie türkischen Sicherheitskräften kam (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht ebd.). Aufgrund der intensivierten militärischen Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Streitkräften und Guerillaverbänden der PKK ist der Druck der Straße auf die türkische Regierung, massiv gegen die PKK vorzugehen, immer größer geworden, denn die Zahl der bei den einzelnen Zwischenfällen getöteten Soldaten hat stetig zugenommen (vgl. Oehring, Gutachten vom 06. April 2008 an VG Stuttgart). Seit dem Überfall der PKK am 21. Oktober 2007 auf einen Außenposten der türkischen Armee, bei dem 12 Soldaten getötet, weitere 17 verletzt und 8 Soldaten verschleppt wurden, ist in der Türkei eine besonders starke nationalistische Stimmung zu spüren, die von den Medien gezielt angeheizt wird; diese Entwicklung wird gefördert durch den Umstand, dass der Nationalismus ein Teil des Staatsverständnisses der türkischen Republik ist und der Einfluss der Ultranationalisten, die meinungsbildend wirken, seit 2005 zugenommen hat (vgl. NZZ vom 24. Oktober 2007 und vom 30. Oktober 2007; FAZ vom 05. Mai 2008; StZ vom 11. Juni 2008; Oehring, Gutachten vom 06. April 2008 an VG Stuttgart). Es kam zu zahlreichen Übergriffen gegen Kurden und mehrere Büros der pro-kurdischen Partei DTP wurden angezündet (vgl. NZZ vom 30. Oktober 2007). Seit Dezember 2007 fliegt die türkische Armee Luftangriffe auf Stellungen der PKK im Norden des Irak (vgl. Nützliche Nachrichten 4/2008, 7). Aufgrund des Einmarsches der türkischen Armee in den Nordirak im Februar 2008 drohte eine Destabilisierung der gesamten Region (vgl. SZ vom 22. Februar 2008). In mehreren Städten im Osten der Türkei griffen im März und April 2008 Polizei und Militär Menschen an, weil sie Newroz feierten; Sicherheitskräfte gingen gezielt gegen Kinder und Jugendliche vor, prügelten auf bereits auf dem Boden liegende Kinder und alte Menschen ein und zerstörten Wohnungen, Geschäfte und Autos. Mehr als 2000 Menschen wurden festgenommen, darunter viele Kinder und Jugendliche; außerdem gab es mehrere Tote (vgl. Nützliche Nachrichten 4/2008, 9).

In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29. Juni 2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Danach werden mehr Taten als bisher als terroristisch eingestuft und Festgenommene erhalten später als bisher Zugang zu einem Anwalt. Die Gesetzesänderung erweitert weiter die Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Rechte von Verteidigern einzuschränken (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25. Oktober 2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007). Damit werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt durch die Reformgesetze gestärkt wurden, wieder eingeschränkt. Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme vom 29. Oktober 2006 an VG Ansbach). Diese Gesetzesverschärfung zeigt, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat, sondern deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht ebd.; Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O). Aufgrund der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurde die Debatte über eine weitere Demokratisierung in der Türkei nunmehr von der Sicherheitsfrage verdrängt (vgl. NZZ vom 24. Oktober 2007). Dies hat die türkischen Streitkräfte veranlasst, die Reformgesetze nicht nur zu diskreditieren, sondern sie offensiv zu missachten (vgl. Kaya, Gutachten vom 20. Juni 2007 an OVG Bautzen). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.

Zwar hat das türkische Parlament unter dem Druck der Europäischen Union am 30. April 2008 eine Reform des § 301 türkStGB beschlossen, der die Beleidigung des "Türkentums" unter Strafe stellte. Aufgrund dieses Gesetzes wurden in den letzten Jahren tausende kritischer Intellektueller und Bürgerrechtler angeklagt und viele verurteilt (vgl. St2 vom 02. Mai 2008; Nützliche Nachrichten 4/2008, 6). Ersetzt wurde nunmehr der Begriff "Türkentum" durch "Türkische Nation", der Strafrahmen wurde reduziert und eine Anklage setzt jetzt die Zustimmung des Justizministers voraus. Auch die EU-Kommission verweist jedoch zu Recht darauf, dass es neben § 301 türkStGB mehr als ein Dutzend andere Strafbestimmungen (beispielsweise §§ 216, 300, 305, 318, 323 türkStGB) gibt, die die Meinungsfreiheit in der Türkei einschränken (vgl. StZ vom 21. April 2008 und vom 02. Mai 2008). Da viele Staatsanwälte und Richter in der Türkei immer noch die Überzeugung haben, dass den Menschen in wichtigen Dingen wie der Meinungsfreiheit nicht zu trauen ist, haben sie auch in Zukunft ein reichhaltiges Arsenal von Gummiparagrafen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit zur Hand (vgl. Weser Kurier vom 16. April 2008; StZ vom 21. April 2008). Die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin hat die Änderung des § 301 türkStGB deshalb zu Recht auch als bloße "Show" mit dem Ziel, die Europäische Kommission zu beeindrucken, bezeichnet (vgl. StZ vom 02. Mai 2008).

Es kann auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger zu 1) aufgrund dessen, dass er sich aktiv für die kurdische Freiheitsbewegung eingesetzt hat, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden (vgl. Kaya, Gutachten vom 08. August 2005 an VG Sigmaringen und vom 09. August 2006 an VG Berlin; Oberdiek, Gutachten vom 15. August 2007 an VG Sigmaringen; Taylan, Gutachten vom 21. Dezember 2007 an VG Sigmaringen). Diese Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt seit vier Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, ebd.). Für die Einschätzung der Gefährdung ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen sich kein Mensch befand, der der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen Organisation verdächtigt wurde (vgl. Kaya, Gutachten vom 08. August 2005 an VG Sigmaringen; ebenso OVG Münster, Urt. v. 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A - juris -; OVG Lüneburg, Urt. v. 18. Juli 2006 - 11 LB 75/06 - juris -). Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23. Februar 2006; Taylan, Gutachten vom 29. Mai 2006 an VG Wiesbaden; Kaya, Gutachten vom 10. September 2005 an VG Magdeburg).

Muss aber der Kläger zu 1) damit rechnen, dass er wegen des Verdachts der Unterstützung der kurdischen Freiheitsbewegung vorgeladen wird oder deshalb gar verhaftet wird - wie das VG Magdeburg angenommen hat - lässt sich nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit eine Wiederholung der Verfolgung ausschließen. Dem Kläger zu 1) ist es nicht zuzumuten, sich bei einem Verhör den dargelegten Gefahren einer Misshandlung auszusetzen.

Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind (ebenso der überwiegende Teil der in den letzten Monaten bekannt gewordenen Gerichtsentscheidungen: siehe hierzu die Aufstellung in der Entscheidung des VG Stuttgart vom 30. Juni 2008, A 11 K 304/07, juris Rdnr. 35). Dass die Beklagte im Lichte neuerer Erkenntnisse die konkrete Verfolgungsgefahr für den Kläger zu 1) anders bewertet, also aus heutiger Sicht bei der damaligen Sachlage keine Entscheidung zugunsten des Klägers zu 1) mehr treffen würde, rechtfertigt die hier streitige Entscheidung auch hinsichtlich der Feststellung zu § 53 AuslG nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 19. September 2000, a.a.O und Urt. v. 08. Mai 2003, a.a.O.).