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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 04.08.2008 - 1 B 3.08 - asyl.net: M14024
https://www.asyl.net/rsdb/M14024
Leitsatz:
Schlagwörter: Verfahrensrecht, Revisionsverfahren, grundsätzliche Bedeutung, Verfahrensmangel, Strafrecht, Strafurteil, Einstellung, Bindungswirkung, Ausländerbehörde, mündliche Verhandlung, Verfahrensbevollmächtigte, Teilnahme, rechtliches Gehör, Sachaufklärungspflicht, Hinweispflicht, Überraschungsentscheidung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 4; StPO § 170 Abs. 2
Auszüge:

Die Beschwerde, mit der die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sowie Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) geltend gemacht werden, bleibt ohne Erfolg.

1. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache lässt sich den von der Beschwerde aufgeworfenen Fragen nicht entnehmen.

c) Die als grundsätzlich angesehene Frage, "ob eine Ausweisungsverfügung auf eine Strafvorschrift gestützt werden kann, obwohl das entsprechende Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs. 1 [gemeint: Abs. 2] StPO eingestellt wurde und damit Strafklageverbrauch vorliegt" (Beschwerdebegründung S. 12), rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Revision. Zum einen führt die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts durch die Staatsanwaltschaft (§ 170 Abs. 2 StPO) nicht zu einem Strafklageverbrauch, denn das Ermittlungsverfahren kann bei entsprechendem Anlass wieder aufgenommen werden (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 170 Rn. 9 m.w.N.). Zum anderen ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt, dass für die Ausländerbehörde - unbeschadet dessen, dass sie in der Regel von der Richtigkeit einer strafgerichtlichen Entscheidung ausgehen darf - keine rechtliche Bindung an tatsächliche Feststellungen und Beurteilungen des Strafrichters besteht (Urteil vom 27. Oktober 1978 - BVerwG 1 C 91.76 - BVerwGE 57, 61 <66> m.w.N.); das gilt erst recht mit Blick auf eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft.

2. Die Verfahrensrügen sind, soweit sie nicht schon unzulässig sind, jedenfalls unbegründet.

Soweit die Beschwerde geltend macht, der Kläger sei im Verfahren nicht nach Vorschrift des Gesetzes vertreten gewesen (Verfahrensmangel gemäß § 138 Nr. 4 VwGO), greift die Verfahrensrüge nicht durch. Der aus gesundheitlichen Gründen an einer Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verhinderte Kläger war durch seine Prozessbevollmächtigte ordnungsgemäß vertreten.

Indes zielt die Beschwerde, wie sich aus dem Zusammenhang ihres Vorbringens ergibt, weniger auf die Frage prozessrechtskonformer Vertretung; vielmehr wird im Schwerpunkt eine Gehörsrüge wegen der fehlenden persönlichen Teilnahme- und Äußerungsmöglichkeit des Klägers in der mündlichen Verhandlung infolge krankheitsbedingter Verhandlungsunfähigkeit erhoben. Voraussetzung einer begründeten Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs ist aber die (erfolglose) vorherige Ausschöpfung sämtlicher verfahrensrechtlich eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl. u.a. BVerfG, Beschluss vom 10. Februar 1987 - 2 BvR 314/86 - BVerfGE 74, 220 <225> m.w.N.). Auf eine Versagung des rechtlichen Gehörs kann sich nicht berufen, wer die im konkreten Fall gegebenen prozessualen Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, nicht genutzt hat (vgl. Beschlüsse vom 25. April 1990 - BVerwG 2 B 37.90 - und vom 31. August 1988 - BVerwG 4 B 153.88 - NJW 1989, 601). Im vorliegenden Fall hätte es der Prozessbevollmächtigten des Klägers oblegen, sich mit Blick auf die vom Kläger für erforderlich gehaltene persönliche Aussage um eine Terminsverlegung oder Vertagung der mündlichen Verhandlung zu bemühen; ein derartiger Antrag wurde indes nicht gestellt.

Auch mit der Rüge des Vorliegens einer Überraschungsentscheidung dringt die Beschwerde nicht durch. Im Grundsatz besteht keine Pflicht des Gerichts, den Beteiligten seine Auffassung jeweils vor dem Ergehen einer Entscheidung zu offenbaren (vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 5. November 1986 - 1 BvR 706/85 - BVerfGE 74, 1 <5>). Allerdings kann in besonderen Fällen ein gerichtlicher Hinweis geboten sein, um den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht leerlaufen zu lassen, da dieser den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit geben soll, die Willensbildung des Gerichts durch sachlich fundierten Vortrag zu beeinflussen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. September 1978 - 1 BvR 570/77 - BVerfGE 49, 212 <215>). Als unzulässiges "Überraschungsurteil" stellt sich eine Entscheidung aber nur dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235 und Beschluss vom 23. Dezember 1991 - BVerwG 5 B 80.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 241).

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass das Berufungsgericht seine Entscheidung auf einen bis zum Abschluss der Berufungsverhandlung nicht mit den Beteiligten erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt hat. Als "überraschend" stellt die Beschwerde allein die Umkehrung des Prozessergebnisses gegenüber der vorausgegangenen Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts im vorläufigen Rechtsschutzverfahren heraus. Mit der Möglichkeit einer davon abweichenden Würdigung der tatsächlichen Umstände in der Hauptsache muss ein gewissenhafter Prozessbeteiligter indes immer rechnen (vgl. Beschluss vom 1. September 1993 - BVerwG 4 B 93.93 - ); insoweit kann auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen werden.