VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 18.07.2008 - 36 X 33.08 - asyl.net: M14049
https://www.asyl.net/rsdb/M14049
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, HEP, DEP, HADEP, PKK, Mitglieder, Verdacht der Unterstützung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Menschenrechtslage, Reformen, politische Entwicklung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Anfechtungsklage, über die die nach § 76 Abs. 1 AsylVfG berufene Einzelrichterin (vgl. Beschluss der Kammer vom 7. Juli 2008) mit Einverständnis der Beteiligten im schriftlichen Verfahren (§ 101 Abs. 2 VwGO) zu befinden hatte, ist begründet, denn der angegriffene Widerrufsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Einen den Widerruf rechtfertigenden Sachverhalt hat die insoweit beweisbelastete Beklagte weder ausreichend dargetan noch ist ein solcher ersichtlich. Der Kläger hatte bei seiner Anhörung im einzelnen vorgetragen, als Mitglied der HEP, DEP und HADEP häufig festgenommen und mehrere Tage in Untersuchungshaft festgehalten worden zu sein und sich zuletzt vom 12. Dezember 1994 bis 28. Juli 1995 wegen des Vorwurfs der Unterstützung der PKK in Haft befunden zu haben. Dieser Vortrag wird gestützt durch das Urteil des Staatssicherheitsgerichts Konya vom 7. Mai 1996, bestätigt durch Urteil des Kassationsgerichtshofs vom 26. Juli 1997, wonach er wegen Unterstützung und Hehlerei für die PKK zu einer Haftstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden war. Angesichts dieses Vortrags hat die Beklagte mit Bescheid vom 26. April 1999 die Feststellung, es lägen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (a. F.) vor, getroffen. Dementsprechend müsste der Kläger bei einer Rückkehr vor erneuter Verfolgung sicher sein. Dies ist nicht der Fall. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Kläger den türkischen Sicherheitskräften weiterhin als kurdischer Aktivist bekannt ist und sie ihn nach wie vor im Verdacht haben, sich entsprechend zu betätigen. Bei dieser Sachlage ist es nicht auszuschließen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei erneut Opfer von Festnahmen und Misshandlungen wird. Nach ihrer ständigen Rechtsprechung ist die Kammer der Auffassung, dass die Reformen in der Türkei noch nicht zu einer solch nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage geführt haben, dass früher von Verfolgung Bedrohte bei ihrer Rückkehr nur mit rechtsstaatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hätten (vgl. zur weiteren Begründung das Urteil der Kammer vom 20. Juni 2007 im Verfahren VG 36 X 75/06). Bei dem Kläger besteht konkret die Gefahr, dass er Opfer extralegaler Festnahmen und Misshandlungen wird. Über solche Maßnahmen, gerade gegen kurdische Aktivisten, wird in einigen Quellen berichtet. Die Verfolgung erfolgt häufig durch nicht näher identifizierbare Mitglieder staatlicher Sicherheitskräfte oder halboffizielle Geheimdienstagenten, deren Aktivitäten sich für die Betreffenden nicht nachweisen lassen. Es ist zu vermuten, dass diese Kräfte absichtlich so agieren, um damit die offiziellen gesetzlichen Schutzvorschriften zu umgehen, die zu Gunsten von Festgenommenen in den letzten Jahren in der Türkei eingeführt worden sind. Hierbei handelt es sich auch nicht um bloße Exzesstaten. Dazu sind diese Vorfälle zu weit verbreitet und werden von offiziellen staatlichen Stellen nicht verfolgt. Es sei nur beispielhaft auf den Fall Semdinli verwiesen, in dem nicht etwa konsequent gegen die beteiligten Straftäter aus den Reihen der Armee vorgegangen wird, sondern im Gegenteil den Strafverfolgern und dem zivilen Gericht Steine in den Weg gelegt werden. Dies wird im Einzelnen im Fortschrittsbericht der Europäischen Union vom 6. November 2007 beschrieben, in dem auch das Problem der extralegalen Festnahmen und Misshandlungen erwähnt wird. In dem Bericht wird moniert, dass es der Justiz an tatsächlicher Unabhängigkeit fehlt, wie die Entlassung des Staatsanwalts zeige, der im Fall Semdinli ermittelt habe. Auch die Vielzahl von Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die Zahl der Beschwerden bei Menschenrechtsorganisationen zeigten, dass in diesem Bereich noch vieles im Argen liege. Im Berichtszeitraum habe der EGMR die Türkei in 330 Fällen wegen der Verletzung von Artikeln der Europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt. Die Zahl der neu eingegangenen Verfahren im Zeitraum 1. September 2006 bis 31. August 2007 sei höher als im selben Zeitraum des Vorjahres. Mehr als zwei Drittel der Verfahren beträfen die Verletzung des Rechtes auf ein faires Verfahren und die Verletzung von Eigentumsrechten. In einer Anzahl von Fällen werde aber auch die Verletzung des Rechts auf Leben und Verstoß gegen das Folterverbot geltend gemacht. Eine bemerkenswerte Anzahl von Entscheidungen sei von der Türkei auch noch nicht umgesetzt worden. Bei den offiziellen Menschenrechtsausschüssen seien 2006 mehr Beschwerden eingegangen als im vorangegangenen Jahr. Der Abnahmetrend von Folterfällen halte an, jedoch werde nach wie vor von Fällen von Folter und Misshandlung berichtet, speziell in der Phase der polizeilichen Ermittlungen oder außerhalb von Polizeistationen. Zwar sei die Verwendung von Aussagen, die in Abwesenheit eines Rechtsbeistandes zustande gekommen sind, und nicht vor einem Richter bestätigt wurden (d.h. bei denen häufig Misshandlung im Spiel war), nach der Strafprozessordnung verboten, jedoch habe der Kassationsgerichtshof entschieden, dass diese Vorschrift nicht auf zurückliegende Fälle Anwendung findet. So hätten in einigen Fällen niedrigere Instanzen sich auf solche Beweismittel gestützt, bei denen der Angeklagte geltend gemacht hatte, er sei bei ihrer Erlangung misshandelt worden. Der Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen bleibe ein problematischer Bereich. Es fehle an schnellen und unabhängigen Untersuchungen von Verletzungen der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte. Im Gegenteil würden solche Verfahren eher verschleppt, die Täter blieben daher straflos. Trotz des rechtlichen Rahmens, der Folter und Misshandlung verbiete, ereigneten sich solche Fälle, ohne wirksam bekämpft zu werden. Der Zugang zu Anwälten nach der Festnahme sei zwar in den Städten weitgehend gewährleistet, nicht aber in ländlichen Gebieten, vor allem nicht im Südosten des Landes. In den Gefängnissen gebe es einige Probleme wie Überfüllung und unzureichende Gesundheitsversorgung. Vor allem öffneten sich die zivilen und militärischen Gefängnisse (wie auch sonstige Einrichtungen, in denen Menschen festgehalten würden) nicht unabhängigen Beobachtern, die überprüfen könnten, ob das Folterverbot eingehalten wird (wie es im optionalen Protokoll der Konvention gegen die Folter gefordert wird). Die Anklagen und Verurteilungen wegen gewaltloser Meinungsäußerungen seien ferner ein Objekt ernsthafter Besorgnis. Die Zahl der deswegen angeklagten Personen habe sich 2006 im Vergleich zu 2005 verdoppelt und sei im Jahre 2007 weiter angestiegen. Die restriktive Rechtsprechung des Kassationshofes und die andauernden Verfolgungen hätten zu einem Klima der Selbstzensur geführt. Die Haltung der Türkei zu Minderheiten-Rechten sei unverändert. Nur die im Vertrag von Lausanne von 1923 aufgeführten Minderheiten (Juden, Armenier, Griechen) würden als solche anerkannt. Die Türkei müsse aber Sprache, Kultur, Religion, Versammlungsfreiheit und andere Rechte für alle Minderheiten anerkennen. Auf diesem Gebiet habe die Türkei keine Fortschritte gemacht.