Ein türkischer Staatsangehöriger verliert seine Rechte nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich nicht dadurch, dass er nach Beendigung des Schulbesuchs keiner Beschäftigung nachgegangen ist und staatliche Berufsförderungsprogramme nicht abgeschlossen hat.
Ein türkischer Staatsangehöriger verliert seine Rechte nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich nicht dadurch, dass er nach Beendigung des Schulbesuchs keiner Beschäftigung nachgegangen ist und staatliche Berufsförderungsprogramme nicht abgeschlossen hat.
(Leitsatz der Redaktion)
24 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob ein türkischer Staatsangehöriger, der in einem Mitgliedstaat das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 besitzt, sein Aufenthaltsrecht im betreffenden Mitgliedstaat und dadurch auch dieses Recht auf freien Zugang verliert, weil er – als inzwischen 23-Jähriger – seit der Beendigung des Schulbesuchs im Alter von 16 Jahren keiner Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachgegangen ist und an staatlichen Berufsförderungsprogrammen zwar teilgenommen, sie aber nicht abgeschlossen hat.
25 Für die Beantwortung dieser Frage ist daran zu erinnern, dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung hat, so dass sich die türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllen, unmittelbar auf die Rechte berufen können, die sie ihnen verleiht. Insbesondere haben sie nach dem zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Aufnahmemitgliedstaat, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (vgl. Urteile vom 17. April 1997, Kadiman, C-351/95, Slg. 1997, I-2133, Randnrn. 27 und 28, und vom 18. Juli 2007, Derin, C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Randnr. 47).
26 Die Rechte, die diese Bestimmung dem Kind eines türkischen Arbeitnehmers hinsichtlich der Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat verleiht, setzen notwendig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraus, da dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sonst jede Wirkung genommen würde (vgl. insbesondere Urteile vom 11. November 2004, Cetinkaya, C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Randnr. 31, und Derin, Randnr. 47).
27 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass das durch keine Voraussetzungen eingeschränkte Recht des Betroffenen, eine frei von ihm gewählte Beschäftigung aufzunehmen, ausgehöhlt würde, wenn die zuständigen nationalen Behörden die Möglichkeit hätten, die Ausübung der dem türkischen Migranten unmittelbar durch den Beschluss Nr. 1/80 verliehenen, genau bestimmten Rechte an Bedingungen zu knüpfen oder in irgendeiner Weise einzuschränken (vgl. Urteil vom 16. März 2000, Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Randnr. 41).
28 Daher sind die Mitgliedstaaten nicht mehr befugt, Bestimmungen über den Aufenthalt zu erlassen, die geeignet sind, die Ausübung der Rechte zu beeinträchtigen, die den Personen, die die in dem Beschluss Nr. 1/80 aufgestellten Voraussetzungen erfüllen und sich somit bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert haben, durch den Beschluss ausdrücklich verliehen werden (vgl. Urteil Ergat, Randnr. 42).
29 Insbesondere kommt es darauf an, einer solchen Person nicht genau in dem Augenblick ihr Aufenthaltsrecht zu nehmen, in dem sie aufgrund des freien Zugangs zu einer von ihr gewählten Beschäftigung die Möglichkeit hat, sich dauerhaft in den Aufnahmemitgliedstaat zu integrieren (vgl. in diesem Sinne Urteil Ergat, Randnr. 43).
30 So hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass es nur zwei Arten von Beschränkungen der Rechte geben kann, die Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer verleiht, die die Voraussetzungen dieses Absatzes erfüllen: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. Urteile Ergat, Randnrn. 45, 46 und 48, Cetinkaya, Randnrn. 36 und 38, Derin, Randnr. 54, vom 7. Juli 2005, Aydinli, C-373/03, Slg. 2005, I-6181, Randnr. 27, vom 16. Februar 2006, Torun, C-502/04, Slg. 2006, I-1563, Randnr. 21, und vom 4. Oktober 2007, Polat, C-349/06, Slg. 2007, I-8167, Randnr. 21).
31 Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass der türkische Staatsangehörige, dem Rechte nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 zuerkannt worden sind, diese Rechte weder deshalb verlieren kann, weil er wegen einer Verurteilung zu einer – auch mehrjährigen – Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, keine Beschäftigung ausgeübt hat, noch aufgrund der Tatsache, dass er zu keiner Zeit Rechte in Bezug auf Beschäftigung und Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hat. Im Gegensatz zu den türkischen Arbeitnehmern, auf die diese Bestimmung Anwendung findet, hängt die Rechtsstellung ihrer in Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Familienangehörigen nicht von der Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ab (vgl. Urteil Derin, Randnr. 56).
32 Dass der Betroffene dem Arbeitsmarkt mehrere Jahre lang nicht zur Verfügung stand, hindert ihn somit nicht daran, sich auf Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 zu berufen, um ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat geltend zu machen (vgl. Urteil Polat, Randnr. 21).
33 Diese Erwägungen gelten erst recht für einen türkischen Staatsangehörigen wie Herrn Er, der den Arbeitsmarkt nicht verlassen hat. Dass er im Alter von 23 Jahren noch immer keine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, steht der Gewährung eines Aufenthaltsrechts nicht entgegen.
34 Ein türkischer Staatsangehöriger, der im Rahmen der Familienzusammenführung zu seinen Eltern in einen Mitgliedstaat gezogen ist und mit ihnen seit dem zweiten Lebensjahr zusammengelebt hat, erfüllt nämlich die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80. Hat er mit 23 Jahren noch immer keine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt, verliert er deshalb nicht sein Aufenthaltsrecht. Es ist im Gegenteil wichtig, dass ihm dieses Recht nicht entzogen wird, da es ihm ohne Aufenthaltsrecht nicht möglich ist, eine solche Beschäftigung aufzunehmen und das ihm durch diese Bestimmung verliehene Recht auszuüben, um sich besser in den Aufnahmemitgliedstaat zu integrieren.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Ein türkischer Staatsangehöriger, der als Kind die Genehmigung erhalten hatte, im Rahmen der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat einzureisen, und der das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, erworben hat, verliert das von diesem Recht auf freien Zugang abgeleitete Aufenthaltsrecht im betreffenden Mitgliedstaat nicht, auch wenn er – als inzwischen 23-Jähriger – seit der Beendigung des Schulbesuchs im Alter von 16 Jahren keiner Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachgegangen ist und an staatlichen Berufsförderungsprogrammen zwar teilgenommen, sie aber nicht abgeschlossen hat.