VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 10.09.2008 - 22 A 140.07 - asyl.net: M14159
https://www.asyl.net/rsdb/M14159
Leitsatz:

Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die Aufnahme in analoger Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes gefunden haben, haben auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes einen Anspruch auf Verlängerung ihres Reiseausweises für Flüchtlinge.

 

Schlagwörter: D (A), Reiseausweis, Flüchtlingsausweis, Verlängerung, Aufnahmeverfahren, Kontingentflüchtlinge, Juden, Sowjetunion, Vertrauensschutz, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Erlasslage, Verwaltungspraxis
Normen: GFK Art. 28; HumHAG § 1 Abs. 1; AufenthG § 103 S. 1; HumHAG § 2; HumHAG § 1 Abs. 3; AufenthG § 101 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 102 Abs. 1 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1; AufenthV § 5 Abs. 1; AufenthV § 5 Abs. 2
Auszüge:

Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die Aufnahme in analoger Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes gefunden haben, haben auch nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes einen Anspruch auf Verlängerung ihres Reiseausweises für Flüchtlinge.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Verlängerung seines Reiseausweises für Flüchtlinge (§ 113 Abs. 1, 5 VwGO).

Der Anspruch auf Verlängerung des internationalen Reiseausweises für Flüchtlinge folgt aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung und dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Vertrauensschutzes.

Der Beklagte hat bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes jüdischen Zuwanderern aus der ehemaligen UdSSR regelmäßig einen internationalen Reiseausweis für Flüchtlinge ausgestellt und verlängert und damit eine ständige, gleichmäßige Verwaltungspraxis begründet. Der Gruppe der jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion wurde nach dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 2001 eine aufenthaltsrechtliche Sonderstellung eingeräumt, die an die Rechtsstellung der Ausländer angelehnt war, die als Flüchtlinge nach den Vorschriften des HumHAG aufgenommen werden. Die Rechtsstellung der jüdischen Emigranten, die keine Flüchtlinge i.S.d. HumHAG oder der GFK waren, bestimmte sich aus einer an die Vorschriften des HumHAG angelehnten stetigen Verwaltungspraxis, die zwischen den Ländern und dem Bund abgestimmt war und durch landesinterne Vorschriften ausgestaltet war (vgl. hierzu VG Osnabrück, Urteil vom 10. Juli 2006, 5 A 53.06 m.w.N., juris). Hieraus folgte auch die passrechtliche Sondersituation, die in entsprechender Anwendung des HumHAG und damit Art. 28 GFK die Ausstellung von Reiseausweisen für Flüchtlinge ermöglichte.

Bei dem Kläger ist durch diese zunächst in Bayern und dann in Berlin fortgesetzte Praxis der Verlängerung seines Reiseausweises schutzwürdiges Vertrauen dahingehend geschaffen worden, dass er - zumindest solange er nicht die Einbürgerung anstrebt - dauerhaft von den Bemühungen um einen Nationalpass freigestellt ist. Durch die Verlängerung des Reiseausweises 2003 durch den Beklagten hat dieser die Verwaltungspraxis Bayerns fortgesetzt und damit bestätigt. Der Kläger hat im Hinblick auf die ihm eingeräumte aufenthaltsrechtliche Sonderstellung seinen Asylantrag zurückgezogen und auch davon abgesehen, seinen Meldepflichten gegenüber der ukrainischen Botschaft nachzukommen. Der Kläger durfte nach Überzeugung des Gerichtes dabei auch auf die Ausstellung bzw. Verlängerung des Ausweises vertrauen. Der Annahme schutzwürdigen Vertrauens steht dabei insbesondere nicht die schriftliche Erklärung gegenüber dem Landratsamt Rhön-Grabfeld vom 16. September 1998 entgegen. Dort hatte der Kläger zur Niederschrift lediglich erklärt, dass ihm bekannt sei, dass im Falle eines späteren Einbürgerungsverfahrens die Vorlage eines gültigen Nationalpasses häufig notwendig ist.

Von seiner geübten Verwaltungspraxis hinsichtlich der Ausstellung und Verlängerung des Reiseausweises für Flüchtlinge durfte der Beklagte nicht ohne sachlichen Grund abweichen. Allein das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes und der Aufhebung des HumHAG genügt hierfür nicht als Begründung. Zwar hat der Gesetzgeber das Kontingentflüchtlingsgesetz aufgehoben und mit § 23 AufenthG zugleich eine neue Rechtsgrundlage für die künftige Aufnahme von jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion geschaffen. Daraus folgt jedoch nicht, dass die vor dem Inkrafttreten der neuen gesetzlichen Regelungen in Deutschland lebenden jüdischen Emigranten künftig allein nach den neuen aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen zu behandeln sind (vgl. VG Osnabrück a.a.O.).