OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 31.07.2008 - 2 L 33/06 - asyl.net: M14181
https://www.asyl.net/rsdb/M14181
Leitsatz:

Stichhaltige Gründe gem. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie sprechen gegen einer (erneute) Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien; kein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Versorgungslage oder krimineller Übergriffe auf Rückkehrer in Tschetschenien.

 

Schlagwörter: Russland, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Anerkennungsrichtlinie, Verfolgungssicherheit, Tschetschenien, Tschetschenen, Gruppenverfolgung, politische Entwicklung, Kadyrow, Sicherheitslage, Situation bei Rückkehr, Übergriffe, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Existenzminimum, Versorgungslage, Wohnraum, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, Kriminalität
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Stichhaltige Gründe gem. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie sprechen gegen einer (erneute) Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Tschetschenien; kein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Versorgungslage oder krimineller Übergriffe auf Rückkehrer in Tschetschenien.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil zu Unrecht verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind und zu Unrecht den angefochtenen Bescheid teilweise aufgehoben. Den Klägern steht der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht zu. Die Beklagte kann auch nicht zur (hilfsweise beantragten) Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG, § 60 Abs. 7 AufenthG und Art. 15 c RL 2004/83/EG verpflichtet werden (§113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die Beantwortung der Frage, welche Wahrscheinlichkeit die in § 60 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzte Gefahr aufweisen muss, hängt nach der bisherigen Rechtsprechung davon ab, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist. War er noch keiner asylrechtlich beachtlichen Bedrohung ausgesetzt, kommt es bei der anzustellenden Prognose darauf an, ob ihm bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit "beachtlicher" Wahrscheinlichkeit droht (BVerwG, Urt. v. 29.11.1977 ~, 1 C 33.71 Buchholz 402.23 § 28 AusIG Nr.11). Wurde ein Ausländer demgegenüber bereits im Herkunftsland politisch verfolgt, so gilt zu seinen Gunsten ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab: Er muss vor erneuter Verfolgung "hinreichend sicher" sein (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980, - 1 BvR 147/80, 1 BvR 181/80, 1 BvR 182/80 -, BVerfGE 54, 341 [360]).

Auch Art. 4 Abs. 4 QRL der (ergänzend) anzuwendenden QRL nimmt eine solche Unterscheidung zwischen vorverfolgt und nicht vorverfolgt ausgereisten Antragstellern

vor, jedoch ergeben sich gewisse Verschiebungen hinsichtlich des Prognosemaßstabs. Nach dieser Regelung stellt der Umstand, dass der Schutz suchende Ausländer bereits verfolgt wurde oder er einen sonstigen ernsthaften Schaden (vgl. Art. 15 QRL) erlitten hat bzw. er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Der Senat teilt die Ansicht des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Urt. v. 21.02.2008 - 3 UE 191/07.A -, Juris), dass damit eine Prognoseregelung nur für vorverfolgte Personen getroffen wird, während für unverfolgt ausgereiste Flüchtlinge es bei der Prüfung bleibt, ob der Flüchtling heute bei Rückkehr in sein Heimatland erwartbar Verfolgungsmaßnahmen oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erleiden wird oder hiervon unmittelbar bedroht ist. Er folgt dem HessVGH auch insoweit, als hierzu auf die Begriffsbestimmung des Art. 2 c) QRL zurückgegriffen werden, wonach "Flüchtling" im Sinne der QRL einen Drittstaatsangehörigen bezeichnet, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Art. 12 keine Anwendung findet. Der letztgenannte Maßstab entspricht dabei dem in der Rechtsprechung entwickelten Maßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" in Anlehnung an die britische Rechtsprechung des "real risk", wobei auch ein Verfolgungsrisiko von unter 50% als beachtlich wahrscheinliches Risiko angesehen werden kann (vgl. HessVGH, Urt. v. 21.02.2008, a.a.O.).

Der von der Rechtsprechung entwickelte Maßstab der "hinreichenden Sicherheit" bei vorverfolgt ausgereisten Flüchtlingen wird demgegenüber nunmehr durch die in Art. 4 Abs. 4 QRL enthaltene Rückausnahme abgelöst, wonach eine erfolgte oder unmittelbar drohende Vorverfolgung den ernsthaften Hinweis nach sich zieht, dass die Furcht des Antragsteller vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sein wird (HessVGH, Urt. v. 21.08.2008, a.a.O.; a.A.: BayVGH, Urteil vom 31.08.2007 - 11 B 02.31724 Juris, der davon ausgeht, dass es auch unter Geltung der QRL bei den ricnterrechtlich entwickelten Prognosemaßstäben bleibt). Bei der Auslegung des Art 4 Abs. 4 QRL können zwar die in der Rechtsprechung entwickelten Kriteriums der „hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung" mit herangezogen werden, da auch der Richtliniengeber davon ausgeht, dass der bereits einmal verfolgte Flüchtling einen erhöhten Schutzstandard genießt; zu beachten ist aber, dass die durch die QRL vorgegebenen Mindeststandards nicht unterschritten werden dürfen.

Eine individuelle Vorverfolgung haben die Kläger - wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid zutreffend dargelegt hat - nicht glaubhaft gemacht.

Zweifelhaft ist, ob die Kläger vor der Ausreise aus Tschetschenien dort von einer regionalen, dem Staat zurechenbaren Gruppenverfolgung betroffen waren, insbesondere ob tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort aus asylerheblichen Gründen (wegen ihres Volkstums oder ihrer politischen Überzeugung) in der erforderlichen Verfolgungsdichte und -intensität von staatlichen russischen Stellen verfolgt wurden, wie dies der Senat in seinem Urteil vom 31.03.2006 (2 L 40/06) angenommen hat.

Die Frage, ob tschetschenische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort aus asylerheblichen Gründen im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger (März 2003) einer solchen Gruppenverfolgung unterlagen, bedarf keiner Entscheidung. Es sprechen jedenfalls stichhaltige Gründe im Sinne von Art. 4 Abs. 4 QRL dagegen, dass die Kläger heute bei Rückkehr nach Tschetschenien erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht werden.

Der Senat teilt die Auffassung des HessVGH in seinem Urteil vom 21.02.2008 (a.a.O.), dass sich die Situation in Tschetschenien im Vergleich zum Ausreisezeitpunkt der Kläger im März 2003 (und auch zum vormaligen Entscheidungszeitpunkt des Senats (31.03.2006) entscheidend verändert hat.

Die Lage in Tschetschenien ist mittlerweile dadurch geprägt, dass die von dem ehemaligen Präsidenten der Russischen Föderation Putin verfolgte und betriebene Politik der "Tschetschenisierung" des Tschetschenienkonflikts aufgegangen zu sein scheint. Mit der Wahl des tschetschenischen Parlaments am 27.11.2005 ist für Moskau der 2003 begonnene "politische Prozess" zur Beilegung des Tschetschenienkonflikts abgeschlossen, Der ehemalige Präsident Putin erklärte bereits im Januar 2006 zum wiederholten Male die "antiterroristische Operation", d.h. den Krieg, für beendet. Wenngleich seit der Regierung und Präsidentschaft Ramsan Kadyrows in Tschetschenien Zeichen der Normalisierung festzustellen sind, finden auch heute noch kleinere Kämpfe zwischen Rebellen und regionalen sowie föderalen Sicherheitskräften statt.

Die von Ramsan Kadyrow im Schatten der autoritären Herrschaft Putins in Tschetschenien aufgerichtete Präsidialdiktatur bricht vollständig mit jenen Prinzipien, nach denen die Tschetschenen als Volk bis zu Präsident Maschadow vor allem auf dem Lande gelebt haben und nach denen ihre Gesellschaft organisiert war.

Vor diesem Hintergrund einer sowohl in autoritären als auch willkürlichen Machtstrukturen gefangenen Gesellschaft wird die Sicherheitslage insbesondere zurückkehrender Tschetschenen von verschiedenen sachverständigen Stellen nicht einheitlich bewertet:

Unter Würdigung dieser Erkenntnismittel kommt der Senat - wie auch der HessVGH in seinem Urteil vom 21.02.2008 (a.a.O.) - zu dem Ergebnis, dass die Sicherheitslage in Tschetschenien zwar nach wie vor problematisch ist, für Rückkehrer ohne Bezug zu dem Maschadow-Regime bzw. den tschetschenischen Rebellen jedoch gleichwohl stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass diese (erneut) von asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen bedroht sein werden.

Eine flächendeckende Bedrohung der tschetschenischen Zivilbevölkerung in Tschetschenien durch russische Sicherheitskräfte und Militärs und diesen zuzuordnendenVerbänden, wie sie noch im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger vorgelegen haben und die Annahme einer regionalen Gruppenverfolgung gerechtfertigt haben mag (vgl. Urt. d. Senats v. 31.03.2006, a.a.O.), ist heute so nicht mehr feststellbar. Selbst nach Auskunft von "Memorial" haben sich für die Menschen in Tschetschenien bedeutsame Veränderungen ergeben, Entführungen und Morde haben schrittweise abgenommen. Bei den Gefährdungen, denen sich insbesondere Rückkehrer ausgesetzt sehen können, handelt es sich überwiegend um kriminelle Handlungen, wie das Erpressen von Geld (vgl. Memorial, Oktober 2007, Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, August 2006 - Oktober 2007), die für sich genommen ohne flüchtlingsrelevanten Anknüpfungs- und Bezugspunkt sind, da bereits nicht erkennbar ist, dass sie an bestimmte flüchtlingsbestimmende Merkmale anknüpfen. Solche Gefährdungen ergeben sich daraus, dass bei aus dem Ausland zurückkehrenden Tschetschenen vermutet wird, dass sie über Geld verfügen und deshalb lohnende Ziele für Erpressungen darstellen. Auch das faktisch nicht funktionierende Rechtschutzsystem in Tschetschenien, das es betroffenen Personen nahezu unmöglich zu machen scheint, sich effektiv gegen rechtswidrige oder kriminelle Übergriffe auch staatlicher Stellen zur Wehr zu setzen, stellt für sich genommen noch keine im Lichte von § 60 Abs. 1 AufenthG/QRL relevante Verfolgung dar, da es auch insoweit an zielgerichteten flüchtlingsrelevanten Zuordnungen fehlt.

Entscheidend bei der anzustellenden Gefährdungsprognose im Rahmen der Rückausschlussklausel des Art. 4 Abs. 4 a.E. QRL ist vielmehr, ob der Rückkehrer zu einer der besonders gefährdeten Personengruppen gehört, wobei hierzu insbesondere Personen zählen, die selbst oder in ihrem familiären Umfeld von Seiten der tschetschenischen Sicherheitskräfte mit ehemaligen oder derzeitigen Mitgliedern der Rebellenorganisation in Zusammenhang gebracht werden. Bestehen hierfür Anhaltspunkte, bleibt es bei dem "ernsthaften Hinweis" des Art. 4 Abs. 4 QRL und der darin enthaltenen Vermutungsregel, da dieser Personenkreis mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen, die bis hin zu Folterungen und Verschwindenlassen führen können, bei Rückkehr zu rechnen hat und daher keine stichhaltigen Gründe dagegen sprechen, dass er nicht erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht ist (HessVGH, Urt. v. 21.02.2008, a.a.O.). Besteht ein derartiger Zusammenhang jedoch nicht, sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass Rückkehrer verfolgungsrelevanten Maßnahmen ausgesetzt sein werden, insbesondere da sie das Schicksal vieler Rückkehrer teilen und aufgrund des von Memorial zusammengestellten Zahlenmaterials davon auszugehen ist, dass die Fälle illegaler Entführungen, das unaufgeklärte Verschwindenlassen von Personen, die Durchführung von flächendeckenden Säuberungsaktionen verbunden mit asylrelevanten Übergriffen wie Folterungen, illegalen Festsetzungen, Vergewaltigungen etc. merklich zurückgegangen sind.

Auch der BayVGH (vgl. Urt. v. 24.10.2007 - 11 B 03.30710 - Juris) geht davon aus, dass von asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen im Wesentlichen nur (noch) solche Personen betroffen sind, die einer bestimmten Risikogruppe angehören, so insbesondere Angehörige von Aufständischen, ferner Personen, die selbst der Kooperation mit den Separatisten verdächtig sind, oder die deshalb den Unwillen der staatlichen Gewalt auf sich gezogen haben, weil sie in Opposition zu den Machthabern in Tschetschenien stehen, für Menschenrechtsorganisationen tätig sind oder sich Beschwerde führend an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder andere Stellen gewandt haben.

In Anwendung dieser Grundsätze ist nicht zu befürchten, dass die Kläger im Fall ihrer Rückkehr nach Tschetschenien flüchtlingsrelevanten Gefährdungen ausgesetzt sein werden. Es sind keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass sie einer der benannten Risikogruppen angehören.

Der Senat hat auf Grund der dargestellten veränderten Sicherheitslage in Tschtschenien keine Anhaltspunkte dafür, dass den Klägern bei einer Rückkehr in die Russische Föderation Folter (§ 60 Abs. 2 AufenthG), die Todesstrafe (§ 60 Abs. 3 AufenthG) oder insbesondere eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK (§ 60 Abs. 5 AufenthG) droht. Das gilt jedenfalls dann, wenn von Seiten der Ausländerbehörde bei der Beschaffung der Heimreisedokumente (Passersatzpapiere) gewährleistet wird, dass diese eine ausreichend lange Geltungsdauer haben, die die Kläger in die Lage versetzen, sich in ihrem Heimatland auszuweisen, bis sie dort einen neuen Pass beantragen und erhalten können (vgl. HessVGH, Urt v. 21.02.2008, a.a.O.).

Auch eine Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 AufenthG kommt nicht in Betracht.

Nach Auffassung des HessVGH (Urt. v. 21.02.2008, a.a.O.) setzt § 60 Abs. 7 AufenthG die Vorgaben des Art. 15 c) QRL nicht vollständig und zutreffend um, da er zum einen den Wortlaut des Art. 15 c) QRL durch Weglassen des Tatbestandselements "infolge willkürlicher Gewalt" nicht vollständig wiedergebe und zum anderen die Ausschlussklausel des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auf Grund der Vorgaben der QRL nicht auf Sachverhaltskonstellationen des § 60 Abs. 7 Satz 2/Art. 15 c) QRL AufenthG übertragen werden dürfe. Gemäß Art. 18 QRL handele es sich nämlich auch bei der Zuerkennung von subsidiärem Schutz um eine gebundene Entscheidung, die bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 15 c) QRL weder dem Entscheidungsvorbehalt des § 60a AufenthG, noch den gesteigerten Anforderungen der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei verfassungskonformer Auslegung (sehenden Auges in den sicheren Tod ...) unterworfen werden dürfe.

Aber auch dann steht den Klägern weder subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 noch nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, Art. 15 c), 18 QRL zu, da sich die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in letzter Zeit deutlich verbessert haben. In den Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien hat sich die Lage hingegen eher verschlechtert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Grozny ist inzwischen fast vollständig wieder aufgebaut - dort gibt es mittlerweile auch wieder einen Flughafen. Nach Angaben der EU-Kommission (ECHO) findet der Wiederaufbau überall in der Republik, insbesondere in Gudermes, Argun und Schali, statt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen melden, dass selbst in kleinen Dörfern Schulen und Krankenhäuser aufgebaut werden. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und Kompensationszahlungen Erfolge. Mismanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau sachgerecht verwendet werden (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 13.01.2008). Wichtigstes soziales Problem sind die Arbeitslosigkeit und große Armut weiter Teile der Bevölkerung. Nach Schätzungen der UN waren im Jahr 2007 ca. 80 % der tschetschenischen Bevölkerung arbeitslos und verfügten über Einkünfte unterhalb der Armutsgrenze (vgl. AA, Lagebericht, 13.01.2008). Wohnraum bleibt weiterhin ein großes Problem, nach Schätzungen der UN wurden während der kriegerischen Auseinandersetzungen ab 1994 über 150.000 private Häuser sowie 73.000 Wohnungen zerstört (vgl. AA, Lagebericht, 13.01.08). Schwierig bleibt die humanitäre Lage der tschetschenischen Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Tschetscheniens. Nach Angaben des UNHCR waren im Juli 2007 29.559 Binnenflüchtlinge registriert. Die russische Regierung arbeitet auf eine möglichst baldige Rückkehr aller tschetschenischen Flüchtlinge hin. Die letzten Zeltlager in Inguschetien wurden bereits 2004 aufgelöst, die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge in den Übergangsunterkünften, die die Zeltlager ablösten, sind in jeder Hinsicht schwierig. In Tschetschenien wurden für die Flüchtlinge provisorische Unterkünfte eingerichtet, die nach offiziellen Angaben besser eingerichtet sein sollen als die früheren Lager in Inguschetien. Die Kapazitäten reichen jedoch nicht für alle Flüchtlinge. Unter Leitung des Koordinationsbüros der Vereinten Nationen (OCHA) leisten zahlreiche internationale und nichtstaatliche Organisationen seit Jahren umfangreiche humanitäre Hilfe in der Region. 2007 planen UN und internationale Hilfsorganisationen humanitäre Projekte im Nordkaukasus mit etwa 65 Mio. US-Dollar (vgl. AA, Lagebericht, 13.01.2008). Zwar sind nach Auskunft von Memorial, wie bereits oben dargestellt, insbesondere Rückkehrer aus dem Ausland insoweit bedroht, als davon ausgegangen wird, dass sie über Geld verfügen und sie daher leicht Opfer von Erpressungen werden können. Derartige kriminelle Übergriffe erreichen zum einen jedoch nicht die Schwelle der von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geforderten Eingriffsintensität, zum anderen geht der Senat gerade auf Grund der von Memorial eingereichten Vergleichszahlen der letzten Jahre davon aus, dass Leib-, Lebens- oder Freiheitsbedrohungen deutlich abgenommen haben und daher nicht mehr von einer konkreten, erheblichen Gefährdung ausgegangen werden kann. Unter Berücksichtigung dieser Angaben ist davon auszugehen, dass der 38-jährige Kläger zu 1. den Lebensunterhalt für sich und seine Familie in Tschetschenien wird bestreiten können. Legt man seine Angaben bei der Anhörung vor dem Bundesamt zu Grunde, war er als selbständiger Transportunternehmer mit einem eigenen LKW tätig. Es ist davon auszugehen, dass er bei dem gegenwärtig in Tschetschenien, insbesondere Grosny, zu beobachtenden Bauboom eine entsprechende Tätigkeit finden wird und für ihn und seine Familie daher von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bei Rückkehr nach Tschetschenien nicht ausgegangen werden kann.