VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Urteil vom 02.07.2008 - 5 K 20245/07 We - asyl.net: M14362
https://www.asyl.net/rsdb/M14362
Leitsatz:

Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak; Menschenrechtssituation ist für alle Volksgruppen schlechter als zur Zeit der Baath-Diktatur.

 

Schlagwörter: Irak, Jesiden, Kurden, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Übergriffe, interne Fluchtalternative, Nordirak, Südirak, Zentralirak, Sicherheitslage, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak; Menschenrechtssituation ist für alle Volksgruppen schlechter als zur Zeit der Baath-Diktatur.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Kläger hat Wiederaufgreifensgründe schlüssig und substantiiert glaubhaft gemacht.

Der gestellte erneute Asylantrag ist ein Asylfolgeantrag, der an den Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zu messen ist.

Zwar beziehen sich die Angaben des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal zum Teil auf den alten bereits bewerteten Sachverhalt, so dass dies nicht weiter einer Überprüfung zugänglich ist. Jedoch sind seine Angaben zur Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak, seit der letzten Entscheidung, einer erheblichen Veränderung im Heimatland unterworfen.

Der Kläger wäre im Falle einer Rückkehr in den Irak und dort in den Großraum Mosul - seinem familiären Herkunftsort ... - nach Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an seine Religion gravierenden unterschiedlichen Maßnahmen ausgesetzt, die sowohl alleine, jedenfalls aber in ihrer Kumulation eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen, so dass seine Verfolgungsfurcht begründet und ihm eine Rückkehr unzumutbar ist.

Das Gericht geht zur eigenen Überzeugungsgewissheit davon aus, dass der Kläger als Yezide aus dem Irak Verfolgung bei einer etwaigen Rückkehr in den Irak zu erwarten hätte. Für das Gericht bestehen an deren Glaubenszugehörigkeit nach der mündlichen Verhandlung keine Zweifel.

Die Yeziden werden im Irak verfolgt. Diese gründet sich bereits daraus, dass ganz allgemein sich nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand September 2007, für den Irak feststellen lässt, dass die interkonfessionellen Auseinandersetzungen ein bisher nicht gekanntes Ausmaß an Gewalt erreicht haben.

Zahlreiche Leichen weisen Folterspuren auf. Konfessionell motivierte Vertreibungen werden konsequent Straßenzug um Straßenzug fortgesetzt. Die Sicherheitslage ist verheerend. Die Spannungen verschärfen sich. Es gibt konfessionell-ethnische Auseinandersetzungen zwischen den großen Bevölkerungsgruppen (arabische Sunniten, arabische Schiiten und Kurden), aber auch mit den Minderheiten. Die Gesamtzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle stieg seit dem Kriegsende 2003 kontinuierlich an. Schwerpunkte der Anschläge der militanten Opposition bleiben Bagdad und der Zentralirak; aber auch im Nordirak und Südirak kommt es vermehrt zu Anschlägen mit schwersten Folgen. Obwohl die Sicherheitslage in der autonomen Region Kurdistan-Irak besser ist als in den übrigen Landesteilen, gibt es hier ebenfalls immer wieder Auseinandersetzungen und Terroranschläge. Die Menschenrechtslage im Irak ist prekär. Im Irak wird die Todesstrafe verhängt und auch vollzogen. Wiederholt wird berichtet, dass vermutlich mehrere tausend Iraker in inoffiziellen Gefängnissen von Milizen und Parteien festgehalten werden, in denen die Lage noch schlechter sein soll als in den offiziellen Gefängnissen. Die irakische Regierung räumte die Existenz sog. Todesschwadronen ein. Der Staat kann den Schutz seiner Bürger nicht gewährleisten. Gewalttaten bleiben meist straflos. Offiziell anerkannte Minderheiten wie Christen, Yeziden oder Mandäer sind einem spezifischen Verfolgungs- und Vertreibungsdruck durch islamistische Organisationen ausgesetzt; dasselbe gilt für Schiiten und Sunniten in den Gegenden, in denen die jeweils andere Konfession die Mehrheit stellt. Gewalttätige Aufständische, Milizen und Terrorgruppen sind für ein durchgängiges Klima der Gewalt, gezielte, aber auch wahllose Tötungen, Verschwindenlassen von Menschen und Folterungen verantwortlich (a.a.O. S. 5). Der Einfluss der in sich zerrissenen Regierung auf die tatsächliche Entwicklung im Land ist äußerst gering; sie ist nur ein Machtfaktor unter vielen (a.a.O. S. 9). Besonders problematisch ist die starke Unterwanderung der Polizei durch Aufständische und (meist schiitische) Milizen. In vielen Fällen sollen insbesondere Polizeibeamte unmittelbar an der Planung und Durchführung von Terroranschlägen, Entführungen und gezielten Morden beteiligt sein (a.a.O. S. 12). Die Zahl der Opfer ethnisch motivierter Gewalt stieg nach dem Anschlag auf die schiitische Askariya-Moschee in Samara am 22. Februar 2006 landesweit an. Berichten zufolge ereignen sich die konfessionell motivierten Verbrechen wie Ermordungen, Folter und Entführungen von Angehörigen der jeweils anderen Glaubensrichtung landesweit. Sogenannte "Pass-Morde" und Massenentführungen sind ebenfalls Ausdruck der ethnisch motivierten Gewalt. Gezielt greifen die Täter Angehörige der einen oder anderen Glaubensrichtung aus einer Gruppe heraus (anhand der Ausweise und der dort vermerkten Namen lässt sich die Konfessionszugehörigkeit relativ verlässlich ermitteln). In den unter autonomer kurdischer Verwaltung stehenden Gebieten des Nordirak ist die Sicherheitslage besser als in Bagdad oder in den Hochburgen der Aufständischen wie Falludscha, Ramadi, Samara oder Baquba. Die Wahrscheinlichkeit, durch einen gegen Dritte gerichteten Anschlag getötet zu werden, ist statistisch geringer. Anschläge finden aber auch in der Region Kurdistan-Irak statt. In den außerhalb der kurdischen Autonomiezone liegenden Gebieten des Nordirak steigt die Zahl der Anschläge und der Todesopfer. Die ehemalige Regierung unter Saddam Hussein führte in den 90er Jahren eine aggressive Arabisierungspolitik in Kirkuk durch. Berichten zufolge versuchen vor allem kurdische Gruppen seit dem Sturz des Regimes, diese Politik rückgängig zu machen, indem die arabische Bevölkerung zur Rückkehr in ihre ehemaligen Siedlungsgebiete aufgefordert wird und gezielt Kurden in Kirkuk angesiedelt werden. Diese Siedlungspolitik führt zu Spannungen in der Bevölkerung (a.a.O. S. 14). Im Vorfeld des Referendums für die Provinz Kirkuk, dessen Durchführung umstritten ist, haben sich die ethnischen Spannungen zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen erheblich verschärft. Der schiitisch dominierte Südirak weist eine geringere Anschlagsdichte auf als der Zentralirak. Anschläge ereignen sich jedoch auch in südirakischen Städten wie Basra, Hilla, Nadschaf und Kut regelmäßig. Die Sicherheitslage in den südirakischen Provinzen hat sich seit dem zweiten Halbjahr 2005 kontinuierlich verschlechtert. Im Irak kommt es auch nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Stellen. Vor allem aber ist der irakische Staat nicht dazu in der Lage, die Sicherheit der Iraker und den Gebrauch der in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu ermöglichen. Neben die staatliche Repression treten - in Ausmaß und Qualität weitaus erhebliche - massive Menschenrechtsverletzungen und Repressionen durch andere Akteure (a.a.O. S. 15). In Stadt und Region Kirkuk klagen Repräsentanten der arabischen und der turkmenischen Bevölkerungsteile über die Folgen der "Zwangskurdisierung" durch Ansiedelung von bis zu 200.000 kurdischen Neubürgern sowie durch Einführung des Kurdischen als offizieller Amtssprache. Insgesamt sind Minderheiten aber in der Region Kurdistan-Irak etwas besser vor Gewalt und Verfolgung geschützt als in den übrigen Landesteilen (a.a.O. S. 17). Schulen waren 2006 nach Einschätzung der Vereinten Nationen vermehrt ein Ziel konfessioneller und krimineller Angriffe. UNICEF bezeichnete die Situation der irakischen Kinder am 16. Juli 2007 als deutlich schlechter als vor drei Jahren. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam Hussein-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Die prekäre Sicherheitslage und wachsende fundamentalistische Tendenzen in Teilen der irakischen Gesellschaft haben negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Nach Angaben des UNHCR sind "Ehrenmorde" in der Praxis noch immer weitgehend straffrei. Berichten zufolge finden in Teilen des stark patriarchalisch strukturierten Nordirak Steinigungen und Genitalverstümmelungen statt. Auch die autonome Region Kurdistan-Irak ist hiervon betroffen. Die irakische Polizei berichtet, dass es im Juli 2005 in Bagdad mehrere Fälle von Säure-Attentaten gegen Frauen gegeben hat, weil es die Opfer ablehnten, sich zu verschleiern (a.a.O. S. 18). Seit 2003 berichten Menschenrechtsorganisationen immer wieder von exzessiver Gewaltanwendung, willkürlichen Tötungen, Zerstörung von Häusern, Folter, Misshandlungen und unrechtmäßigen Inhaftierungen durch Angehörige der Koalitionsstreitkräfte (a.a.O. S. 19). In weiten Teilen des Landes hat seit dem Sturz des weltlichen Saddam-Regimes eine fortschreitende Islamisierung die Gesellschaft verändert. Die Folge ist eine wachsende Ausgrenzung von Angehörigen nicht ausdrücklich unter dem Schutz der islamischen Religion stehender Glaubensrichtungen. Gleichzeitig kommt es aber auch zunehmend zu Spannungen und gewalttätigen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen der jahrzehntelang diskriminierten schiitischen Mehrheit und der bisherigen sunnitischen Führungsschicht. Mit dem Anschlag vom 22. Februar 2006 auf das schiitische Heiligtum in Samara und den Vergeltungsaktionen in der Folge näherte sich der Irak offenen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen. Im Laufe des Jahres 2006 hat die Gewalt im Irak einen deutlicher konfessionell ausgerichteten Zug angenommen. Wiederholt brannten sunnitische und schiitische Moscheen. Straßenzüge in Bagdad werden von Milizen "beschützt"; dazu gehört die Vertreibung der jeweiligen konfessionellen Minderheit. Von der allgemeinen katastrophalen Sicherheitslage und den ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen sind auch Kurden betroffen, insbesondere soweit sie außerhalb der autonomen Region Kurdistan-Irak leben. Vor allem im Konflikt um den Status von Kirkuk, aber auch in Mosul kommt es immer wieder zu Übergriffen und Anschlägen auf Kurden (a.a.O. S. 21). Der UNHCR vertritt die Auffassung, dass keine irakische Region als innerstaatliche Fluchtalternative angesehen werden kann, da nach wie vor landesweit ein Sicherheitsdefizit vorhanden ist (a.a.O. S. 23).

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass der gegenüber der internationalen Gemeinschaft auf Lügen gestützte völkerrechtswidrige Krieg der USA mit ihren Koalitionstruppen den Irak in einen gesellschaftlich völlig destabilisierten Zustand versetzt hat, bei dem sich die einzelnen Bevölkerungsgruppen unter Führung ihrer jeweils religiös-militanten Wortführer bekämpfen. Dies erfolgt in einem Umfang und einer brutalen Härte, bei der die "Verfolgungsdichte" der ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen weitaus umfassender ist, als unter der Diktatur des alten weltlich orientierten Regimes. Davon sind auch die Kurden im Nordirak betroffen, weil dort die Sicherheitslage offensichtlich nicht so viel "besser" ist, um eine asylrelevante Verfolgungsdichte abzulehnen. Hinzu kommt, dass bei Kurden schnell der Verdacht einer PKK-Unterstützung aufkommt, um sie dem terroristischen Lager zuzuordnen. Von Seiten der Türkei führt dies zu militärischen Aktionen mit Bombardierungen von Ortschaften im Nordirak mit entsprechenden Opfern auch unter der Zivilbevölkerung.

Bei dem Kläger als Yeziden und damit Angehörigen einer kleinen religiösen Gruppe, ist diese Gefährdung auch noch besonders hoch. Dies stellt das Bundesamt regelmäßig so auch selber fest. Der Kläger hat immer mit der Familie in ... zusammen und war mithin immer in seinen Familien- und Clanstrukturen verwoben.

Der dargelegten Bedrohung unterliegt der Kläger auch landesweit, weil er weder auf andere Gebiete des ehemals autonomen Kurdengebiets noch auf den Zentral- und Südirak verwiesen werden kann.

Der gesamte Zentral- und Südirak kommt schon im Hinblick auf die dort überall katastrophale Sicherheitslage und die allgegenwärtige Gefahr, wieder Opfer von islamistisch motivierten Angriffen zu werden, als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Zudem verfugt der Kläger in keinem anderen Landesteil über tragfähige verwandtschaftliche Beziehungen, so dass er gegenwärtig und auf absehbare Zeit keine ihm ein Überleben auf Dauer sichernde Existenzgrundlage finden könnte.