OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.11.2008 - 8 A 2738/08.A - asyl.net: M14452
https://www.asyl.net/rsdb/M14452
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Folter, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Haftbefehl, menschenrechtswidrige Behandlung, Kurden, Reformen, Menschenrechtslage, Situation bei Rückkehr, Inhaftierung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. [...]

Die mit der Antragsschrift allein aufgeworfene Frage, ob türkischen Staatsangehörigen, die im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei aufgrund Haftbefehls bzw. zur Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe in Haft genommen werden, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, Opfer von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG zu werden, hat sich dem Verwaltungsgericht in dieser allgemeinen Form nicht gestellt. [...]

Aber auch wenn zugunsten der Beklagten unterstellt wird, sie habe die Frage aufwerfen wollen, ob ein vorverfolgt aus der Türkei ausgereister kurdischer Volkszugehöriger, der im Falle seiner Rückkehr in die Türkei aufgrund Haftbefehls bzw. Verbüßung einer Freiheitsstrafe in Haft genommen wird, hinreichend sicher vor Foltermaßnahmen oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ist, ist ein grundsätzlicher Klärungsbedarf nicht dargetan. Diese Frage bedarf keiner grundsätzlichen Klärung. In der - vom Verwaltungsgericht auch zur Grundlage seiner Entscheidung gemachten - Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass es in der Türkei trotz der umfassenden Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter, weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität kommt, die dem türkischen Staat zurechenbar sind, weshalb auch gegenwärtig verfolgt ausgereiste Kurden vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind (vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 21 ff. des Urteilsabdrucks, und Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, S. 17 ff. des Urteilsabdrucks).

Mit den Ausführungen der Beklagten zu Verbesserungen der Sicherheitslage in der Türkei und fehlender Foltergefahr für abgelehnte, in die Türkei zurückkehrende Asylbewerber ist ein grundsätzlicher Klärungsbedarf schon deshalb nicht dargelegt, weil sich die Beklagte mit der vom Verwaltungsgericht wörtlich zitierten Rechtsprechung des Senats nicht auseinandergesetzt, insbesondere keine tatsächlichen Umstände aufgezeigt hat, die die Bewertung der Menschenrechtslage in der Türkei, die dem Senatsurteil vom 27. März 2007 zugrunde liegt, in Frage stellen und Anlass zu einer erneuten grundsätzlichen Prüfung geben könnten.

Aus den vom Beklagten angeführten, angeblich von dem angefochtenen Urteil des Verwaltungsgerichts und der Rechtsprechung des Senats abweichenden Urteilen des VG Düsseldorf vom 23. März 2006 - 4 K 4322/05.A - und vom 30. November 2006 - 4 K 3870/06.A - und des OVG Rheinland-Pfalz vom 18. November 2005 - 10 A 10580/05 -) ergeben sich keine neuen tatsächlichen Umstände. Sie sind zeitlich vor dem Senatsurteil vom 27. März 2007 ergangen und beziehen sich auf eine Erkenntnislage, die der Senat bereits gewürdigt hat.

Entsprechendes gilt, soweit die Beklagte einen grundsätzlichen Klärungsbedarf daraus herleiten will, dass - wie in der Zulassungsschrift ausgeführt ist - in den angefochtenen Entscheidungen Verwaltungsgerichte und ein Oberverwaltungsgericht eine im vorliegenden Verfahren erhebliche Frage bei gleicher Auskunftslage unterschiedlich beantwortet hätten. Der Senat hat zu der Gefahr von Folter und sonst menschenrechtswidrigen Übergriffen in der Türkei bereits grundsätzlich Stellung genommen. Selbst wenn einzelne Gerichte, insbesondere Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, die hierzu bewertende Tatsachenfrage anders beantworten würden, könnte eine erneute grundsätzliche Klärung durch den Senat eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung nicht herbeiführen.

Unabhängig davon trifft die Darstellung der Beklagten auch nicht zu. Das von der Beklagten angeführte Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 18. November 2005 - 10 A 10580/05 - betraf einen "entfernten Mitläufer der prokurdischen Szene", dessen niedrig profiliertes exilpolitisches Engagement ohnehin keine beachtliche Verfolgungsgefahr begründet, weil er - anders als der Kläger des vorliegenden Verfahrens - nicht als "ernstzunehmender Gegner des türkischen Staates" in Erscheinung getreten ist. Die Ausführungen des VG Düsseldorf in dem Urteil vom 23. März 2006 - 4 K 4322/05.A - bezogen sich auf einen Asylbewerber, dem nach der Sachverhaltswürdigung des Gerichts keine polizeilichen Vorfeldermittlungen mehr drohten, sondern lediglich Strafhaft, die aber keine politische Verfolgung darstelle. Dass bestimmte Personengruppen wie etwa Kader der PKK weiterhin der Gefahr menschenrechtswidriger Übergriffe ausgesetzt sind, hat das VG Düsseldorf in seinem Urteil vom 30. November 2006 - 4 K 3870/06.A - im Einklang mit der Senatsrechtsprechung ausdrücklich hervorgehoben.

Der Vortrag der Beklagten, es sei seit vier Jahren kein Fall mehr bekannt geworden, in dem ein abgelehnter Asylbewerber nach seiner Rückkehr im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert worden sei, begründet ebenfalls keinen erneuten Klärungsbedarf. Der Senat hat bereits mehrfach ausgeführt, dass die diesbezüglichen Erkenntnisse für die Gefährdungsprognose unergiebig sind. Denn den von der Beklagten in diesem Zusammenhang zitierten Lageberichten und Auskünften sind keine Hinweise darauf zu entnehmen, dass unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen Personen gewesen wären, bei denen nach der bisherigen Erkenntnislage mit Übergriffen zu rechnen gewesen wäre (vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A - sowie Beschlüsse vom 1. Dezember 2005 - 8 A 4037/05.A - und vom 31. März 2008 - 8 A 684/08.A -).

Für Fallgestaltungen der hier in Rede stehenden Art unergiebig ist auch die von der Beklagten zitierte Auskunft der Botschaft Ankara vom 14. Januar 2008. Daraus ergibt sich nicht, dass der Kläger keinen polizeilichen Befragungen ausgesetzt und in der Zeitspanne bis zur Vorführung bei Gericht vor menschenrechtswidrigen Übergriffen geschützt sein wird. Vielmehr ist in dieser Auskunft ausgeführt, dass der Staatsanwalt bei Personen, die im Zusammenhang mit terroristischen Organisationen angeklagt sind, die Vernehmung durch die Polizeibehörde anordnen und die Frist des Polizeigewahrsams bis auf vier Tage verlängert werden kann.

[...]