Merkliste
Zitieren als:
, Beschluss vom 10.11.2008 - 4 Qs 103/08 - asyl.net: M14489
https://www.asyl.net/rsdb/M14489
Leitsatz:

Einem staatenlosen Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei ist es nicht zuzumuten, die Pass- und Ausweispflicht zu erfüllen, wenn damit die Verpflichtung verbunden ist, sich zur Ableistung des Wehrdienstes bereitzuerklären.

 

Schlagwörter: D (A), Türkei, Strafrecht, Passpflicht, Passbeschaffung, Zumutbarkeit, Ausbürgerung, Staatenlose, Wiedereinbürgerung, Wehrdienst, Kriegsdienstverweigerung
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 3 Abs. 1; AufenthG § 48 Abs. 2; GG Art. 4 Abs. 3
Auszüge:

Einem staatenlosen Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei ist es nicht zuzumuten, die Pass- und Ausweispflicht zu erfüllen, wenn damit die Verpflichtung verbunden ist, sich zur Ableistung des Wehrdienstes bereitzuerklären.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die gemäß §§ 210 Abs. 2, 311 ff. StPO stattthafte, form- und fristgerecht erhobene sofortige Beschwerde bleibt in der Sache aus den auch unter Berücksichtigung der Beschwerdebegründung zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses ohne Erfolg. Das Amtsgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens zu Recht abgelehnt, weil der Angeschuldigte aus Rechtsgründen des ihm zur Last gelegten Vergehens nicht hinreichend verdächtig ist. Die Kammer verweist zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die sorgfältige Begründung des angefochtenen Beschlusses, die im Einklang mit der obergerichtlichen strafgerichtlichen Rechtsprechung steht. Im Einzelnen hat das Amtsgericht das Ergebnis der Ermittlungen zutreffend zusammengefasst, die Strafnorm des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in Verbindung mit §§ 3 Abs. 1, 48 Abs. 2 AufenthG zu Recht als echtes Unterlassungsdelikt eingestuft und im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG (NVwZ 2006, 80 f. m.w.N. ausgeführt, eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift sei auch im Hinblick auf den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn dem Ausländer die Erfüllung seiner Pass- und Ausweispflicht unzumutbar ist. Dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts noch zu § 92 Abs. 1 Nr.2 AuslG a.F. ergangen ist, steht nicht entgegen. Zwar wurde diese Strafbestimmung mit Wirkung vom 1.1.2005 durch § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ersetzt, eine materielle Rechtsänderung ist dadurch jedoch nicht eingetreten (vgl. etwa OLG München, Beschl. vom 20.2.2006 - 4 StRR 020/06; OLG Frankfurt/M., NStZ-RR 2006, 243). Die darauf fußende und eingehend begründete Auffassung des Amtsgerichts, dem Angeschuldigten sei es, nachdem ihm mit Beschluss des türkischen Ministerrats vorn 29.4.2002 die türkische Staatsangehörigkeit aberkannt worden war, weil er sich als Kriegsdienstverweigerer geweigert hatte, seine Wehrpflicht in der Türkei abzuleisten, mit Blick auf Art. 4 Abs. 3 GG unzumutbar, sich um die Wiedererlangung dieser Staatsbürgerschaft und damit um einen türkischen Pass zu bemühen, weil dies voraussetzt, dass er in einem darauf gerichteten eigenhändigen Antrag ausdrücklich entgegen seinem Willen zur Kriegsdienstverweigerung seine Bereitschaft zur Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei erklären muss, trifft entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft zu und wird durch die in dem angefochtenen Beschluss zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 27, 191, 193; BGHSt 32.314, 324) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 7, 242, 250; BVerwG NwVZ 2005, 484 f.) gestützt. Die sich ausschließlich auf anderslautende verwaltungsgerichtliche Instanzrechtsprechung zur (verneinten) Frage einer Aufenthaltsberechtigung oder einem Abschiebungsschutz in einem solchen Fall stützende sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft kann dies nicht hinreichend in Frage stellen. Das Ausländerstrafrecht dient nicht dazu, andere hier mit einer Wiedereinbürgerung des Angeschuldigten bezweckte hoheitliche Interessen fremder Staaten zu ermöglichen. Unter diesem Gesichtspunkt dürfen die Anforderungen zur Erlangung eines Passes für einen Ausländer zwecks Meidung einer Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Ziffer 1 AufenthG nicht zu hoch angesetzt werden, denn das Zumutbarkeitskriterium soll in erster Linie der Nachlässigkeit oder Bequemlichkeit das Ausländers Einhalt gebieten (OLG Celle, StraFo 2005, 434, das einen aus der Türkei stammenden Ausländer in einem vergleichbaren Fall freigesprochen hat). [...]