OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 04.11.2008 - 1 A 180/07 - asyl.net: M14729
https://www.asyl.net/rsdb/M14729
Leitsatz:

Soll ein Aufenthaltstitel zurückgenommen werden, der einem minderjährigen Ausländer aufgrund von Täuschungshandlungen seiner Eltern erteilt worden ist, setzt das eigenständige Ermessenserwägungen unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Ausländers voraus; das Verhalten der Eltern wird dem Ausländer nicht zugerechnet.

 

Schlagwörter: D (A), Berufungszulassungsantrag, ernstliche Zweifel, Rücknahme, Aufenthaltsbefugnis, Aufenthaltserlaubnis, Ermessen, Kinder, Eltern, Falschangaben, Täuschung, Zurechnung
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1; VwVfG § 48 Abs. 1
Auszüge:

Soll ein Aufenthaltstitel zurückgenommen werden, der einem minderjährigen Ausländer aufgrund von Täuschungshandlungen seiner Eltern erteilt worden ist, setzt das eigenständige Ermessenserwägungen unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Ausländers voraus; das Verhalten der Eltern wird dem Ausländer nicht zugerechnet.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Entgegen der Ansicht der Beklagten bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Gerichtsbescheids. [...]

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass die Rücknahme der den Klägern - als Minderjährige - erstmals 1997 erteilten und dann 1999 verlängerten Aufenthaltsbefugnisse nicht ermessensfehlerfrei erfolgte. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat das Verwaltungsgericht dabei keine überzogenen Anforderungen an die behördliche Ermessensentscheidung gestellt.

Hinsichtlich der Rücknahme der - von den Eltern oder einem Elternteil durch bewusste Täuschung erwirkten - Aufenthaltsbefugnisse minderjähriger Kinder ist eine gegenüber der Rücknahme der Aufenthaltsbefugnisse der Eltern eigenständige Ermessensentscheidung zu treffen. Dabei ist namentlich zu berücksichtigen, ob die Kinder an der Täuschung beteiligt waren oder ihnen eine eigenständige Täuschungshandlung vorzuwerfen ist. Darüber hinaus sind etwaige eigene schutzwürdige Belange der Kinder in die Ermessenserwägungen einzustellen. Dies gilt umso mehr, je älter die Kinder sind und je besser sie sich in die deutschen Lebensverhältnisse integriert haben. Diesen Belangen ist das öffentliche Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände auf dem Gebiet des Zuwanderungsrechts mit dem ihm zukommenden besonderen Gewicht gegenüberzustellen. Diese Anforderungen, die das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 09.09.2003 - 1 C 6.03 - BVerwGE 119, 17 <24f.> = NVwZ 2004, 487 <489>) für die Rücknahme der von einem Elternteil durch bewusste Täuschung erwirkten (Mit-) Einbürgerung eines minderjährigen Kindes aufgestellt hat, gelten für die Rücknahme eines Aufenthaltstitels, der auf der Täuschung der Eltern beruht, entsprechend (vgl. OVG Bremen, B. v. 07.08.2008 - 1 A 383/07).

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass die - hier maßgebliche - Ermessensentscheidung der Widerspruchsbehörde diesen Anforderungen nicht genügt. Im Widerspruchsbescheid heißt es, dass die Kläger auf den Bestand der erteilten Aufenthaltsbefugnisse nicht vertrauen durften. Ein Vertrauensschutz komme nicht in Betracht, "weil die Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Erteilung seitens der Eltern auch insoweit den minderjährigen Widerspruchsführern zuzurechnen ist". Damit hat die Widerspruchsbehörde den Klägern ausdrücklich die Täuschungshandlung ihrer Eltern zugerechnet, was nach Vorstehendem nicht zulässig ist. Der Vortrag der Beklagten im Zulassungsantrag, hierbei handele es sich lediglich um "einen Schlusssatz" und keine Ermessensprüfung, ist nicht dazu geeignet, den unmissverständlichen Inhalt dieses Satzes zu relativieren. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Gerichtsbescheids lassen sich mit diesem Vortag nicht begründen. [...]