VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 14.11.2008 - A 3 K 1358/08 - asyl.net: M14799
https://www.asyl.net/rsdb/M14799
Leitsatz:

Keine erhebliche und dauerhafte Verbesserung der Lage in der Türkei, die einen Widerruf der Asylanerkennung wegen vermuteter Unterstützung der PKK rechtfertigen würde.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Verpflichtungsurteil, Bindungswirkung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Kurden, Verdacht der Unterstützung, PKK, Antiterrorismusgesetz
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; VwGO § 121
Auszüge:

Keine erhebliche und dauerhafte Verbesserung der Lage in der Türkei, die einen Widerruf der Asylanerkennung wegen vermuteter Unterstützung der PKK rechtfertigen würde.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und begründet. [...]

Rechtsgrundlage für den angefochtenen Widerrufsbescheid ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. [...]

Mit der Aufnahme der Formulierung "Wegfall der Umstände" in § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG wurden Art. 11 Abs. 1 lit. e und f der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 in nationales Recht umgesetzt, wobei diese Regelung nach ihrem Wortlaut und Inhalt der "Wegfall-der-Umstände-Klausel" in Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK entspricht (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 7.2.2008 - BVerwG 10 C 33.07 -, ZAR 2008, 192 = AuAS 2008, 118). Mit "Wegfall-der-Umstände-Klausel" i.S.v. Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK ist eine nachträgliche erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der für die Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse gemeint (BVerwG, Urteil vom 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276 = Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 15 = DVBl. 2006, 511). Daraus hat das Bundesverwaltungsgericht auch schon vor Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes in ständiger Rechtsprechung geschlossen, dass der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nur dann in Betracht kommt, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht (BVerwG, Urteile vom 1.11.2005 a.a.O. und vom 18.7.2006 - 1 C 15.05 -, BVerwGE 126. 243 = Buchholz 402.242 § 60 Abs. 1 AufenthG Nr. 20 = NVwZ 2006, 1420 sowie Beschluss vom 7.2.2008 a.a.O.). Nach diesen Grundsätzen kommt der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung nur dann in Betracht, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher Änderungen im Verfolgerstaat mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, mithin sich die tatsächlichen Verhältnisse dort so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass der Betroffene ohne Verfolgungsfurcht heimkehren kann. Dieser Prognosemaßstab gilt dabei gleichermaßen für die Fälle, in denen der Ausländer seinen Heimatstaat auf der Flucht vor bereits eingetretener politischer Verfolgung verlassen hat, als auch für den Fall, in dem der Ausländer seinen Heimatstaat auf der Flucht vor unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat (BVerwG, Urteile vom 23.7.1991 - 9 C 164.90 -, BVerwGE 88, 367, und vom 24.11.1992 - 9 C 3.92 - Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG 1992 Nr. 1).

Hinzu kommt, dass die Beklagte vorliegend durch rechtskräftiges Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 19.11.2001 - A 9 K 10372/97 - dazu verpflichtet worden war, die Klägerin zu 1 als Asylberechtigte anzuerkennen. In einem solchen Fall darf das Bundesamt die daraufhin von ihm ausgesprochene Anerkennung und die getroffene Feststellung überhaupt nur widerrufen, wenn sich seit Ergehen des Urteils die Gefährdungslage in diesem Staat so verbessert hat, dass auf sie die vom Verwaltungsgericht rechtskräftig angenommene Verfolgungsprognose nicht mehr gestützt werden kann (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.2.2001 - A 9 S 2007/99 - ESVGH 51, 186 = InfAuslR 2001, 406 m.w.N. zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AuslG a.F.). Die aus § 121 VwGO folgende Rechtskraftwirkung des früheren Urteils entfällt damit nicht bei jeglicher nachträglicher Änderung der Verhältnisse, sondern nur dann, wenn die nachträgliche Änderung der Sachlage entscheidungserheblich ist. [...]

Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen hat die Beklagte zu Unrecht von der zwingenden Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 AsylVfG Gebrauch gemacht. Denn dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes lässt sich unter Berücksichtigung der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Erkenntnisquellen nicht entnehmen, dass sich die Gefährdungslage in der Türkei für die Klägerin zu 1 nach Ergehen des Urteils des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 19.11.2001 so nennenswert verbessert hat, dass auf sie die vom Verwaltungsgericht früher angenommene Verfolgungsprognose nicht mehr gestützt werden kann.

Das Verwaltungsgericht hatte der Klägerin zu 1 Asyl gewährt, weil ihr (ebenso wie ihrem Ehemann) wegen vermuteter Unterstützung der PKK die Gefahr politischer Verfolgung drohe.

Diese vom Gericht seinerzeit angenommene Gefährdungslage hat sich für die Klägerin zu 1 nicht nachhaltig verändert. Dem Bundesamt ist zwar darin zu folgen, dass sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Asylanerkennung und der Zuerkennung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. verändert haben. So hat das türkische Parlament im Zuge der Bemühungen, die Voraussetzungen für einen Beitritt zur Europäischen Union zu erfüllen, bislang acht Gesetzespakete verabschiedet, deren Kernpunkte u.a. die Abschaffung der Todesstrafe, die Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, die Reform des nationalen Sicherheitsrats und Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter sind (vgl. AA, Lageberichte vom 25.10.2007 und 11.9.2008). Im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten sind danach aber nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Denn die im Bemühen um den Beitritt zur Europäischen Union bis 2005 andauernden Reformen haben weder eine adäquate Umsetzung in der Rechtsprechung gefunden noch für eine Liberalisierung im Vorgehen der Sicherheitskräfte gesorgt. Vielmehr existieren die meisten Vorschriften, mit denen die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden kann, weiter und die Gerichte haben verstärkt auf andere Bestimmungen zurückgegriffen, um abweichende Meinungen zu bestrafen. Darüber hinaus hat das türkische Parlament zum 18.7.2006 das Anti-Terror-Gesetz (ATG) verschärft. Es sieht eine wenig konkret gefasste Terror-Definition, eine Ausweitung von Straftatbeständen, die Schwächung der Rechte von Verhafteten und die Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitskräfte vor. Die Meinungsfreiheit wird weiter beschnitten und ermöglicht für viele Handlungen, die nicht im Zusammenhang mit Gewaltakten stehen, die Verurteilung als Beteiligung an Terrordelikten. Die Änderungen am ATG machen somit deutlich, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt, sondern sogar dass deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (Oberdiek für SFH, Oktober 2007; AA, Lageberichte vom 25.10.2007 und 11.9.2008). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist danach noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen erheblich zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Tolleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte. Eine der Hauptursachen hierfür wird in der nicht ausreichend effizienten Strafverfolgung von Foltertätern gesehen. Der Regierung ist es bisher nicht gelungen, Fälle von Folter und Misshandlungen in dem Maße einer Strafverfolgung zuzuführen, wie dies ihrem erklärten Willen entspricht (AA, Lageberichte vom 25.10.2007 und 11.9.2008; Oberdiek für SFH, Oktober 2007). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen (AA, Lageberichte vom 25.10.2007 und 11.9.2008). Im Jahr 2007 wurde jedoch im Vergleich zum Vorjahr erneut ein Anstieg um 40% der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung festgestellt (Oberdiek für SFH, Oktober 2007).

Auch nach dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 6.11.2007 (vgl. alec.europa.eu) besteht noch die Gefahr von extralegalen Festnahmen und Misshandlungen sowie generell die Gefahr, ohne die Möglichkeit anwaltlichen Beistands oder ärztlicher Kontrolle festgenommen zu werden. In diesem Bericht wird weiter beanstandet, dass es der Justiz an tatsächlicher Unabhängigkeit fehle. Die Vielzahl von Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und die Zahl der Beschwerden bei Menschenrechtsorganisationen zeige, dass in diesem Bereich noch vieles im Argen liege. Die Zahl der neu eingegangenen Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Zeitraum vom 1.9.2006 bis zum 31.8.2007 sei höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Nach wie vor werde von Fällen von Folter und Misshandlung besonders in der Phase der polizeilichen Ermittlungen oder außerhalb von Polizeistationen berichtet. Diesbezügliche Verfahren würden eher verschleppt; die Täter blieben daher straflos. Eine Überprüfung durch unabhängige Beobachter, ob das Folterverbot im zivilen und militärischen Gefängnissen eingehalten werde, sei nicht möglich, weil diese keinen Zugang erhielten. Ferner seien Anklagen und Verurteilungen wegen gewaltloser Meinungsäußerungen ein Objekt ernsthafter Besorgnis. Die Anzahl der deshalb angeklagten Personen habe sich 2006 im Vergleich zu 2005 verdoppelt und sei im Jahre 2007 weiter gestiegen. Die restriktive Rechtsprechung des Kassationshofes und die andauernden Verfolgungen hätten zu einem Klima der Selbstzensur geführt.

Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 eskaliert sind. Eine weitere Verschärfung der Situation im Südosten der Türkei wurde durch ein von Gendarmerie-Angehörigen verübtes Bombenattentat auf einen kurdischen Buchladen in der Stadt Semdinli am 9.11.2005 ausgelöst. Ihren Höhepunkt erreichten die Spannungen nach den friedlich verlaufenden Newroz-Feierlichkeiten, als es zwischen dem 28. und 31.3.2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten der Türkei zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten und türkischen Sicherheitskräften kam (AA, Lageberichte vom 25.10.2007 und 11.9.2008). Seit dem Überfall der PKK am 21.10.2007 auf einen Außenposten der türkischen Armee, bei dem 12 Soldaten getötet, weitere 17 verletzt und 8 Soldaten verschleppt wurden, ist in der Türkei eine besonders starke nationalistische Stimmung zu spüren (FR vom 25.10.2007 und FAZ vom 31.10.2007). Es kam zu zahlreichen Übergriffen gegen Kurden und mehrere Büros der pro-kurdischen Partei DTP wurden angezündet (FAZ vom 31.10.2007). Aufgrund der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurde die Debatte über eine weitere Demokratisierung in der Türkei nunmehr von der Sicherheitsfrage verdrängt (FAZ vom 31.10.2007). Angesichts dieser Entwicklung ist es jedoch völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft überhaupt fortgeführt und umgesetzt wird.

Nach alldem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten (so auch VG Stuttgart, Urteil vom 14.4.2008 - A 12 K 1612/06 -, vom 22.4.2008 - A 8 K 5626/07 -, vom 23.6.2008 - A 11 K 4917/07 - und vom 30.6.2008 - A 11 K 304/07 -), so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Asylanerkennung und Zuerkennung der Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG nicht weggefallen sind. [...]