VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 21.01.2008 - 4 V 3693/07 - asyl.net: M14813
https://www.asyl.net/rsdb/M14813
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Abschiebungsandrohung, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit, Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Freizügigkeit, Unionsbürger, Besserstellungsverbot, Nichtbestehensfeststellung, Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Ablehnungsbescheid
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 58 Abs. 2; AufenthG § 50 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7; AufenthG § 4 Abs. 5; ARB Nr. 1/80 Art. 14 Abs. 1; AufenthG § 84 Abs. 2; FreizügG/EU Art. 11 Abs. 1; FreizügG/EU § 7
Auszüge:

[...]

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Abschiebungsanordnung und Abschiebungsandrohung hat Erfolg. [...]

Denn der Antragsteller ist weder durch die Ausweisung (Ziffer 1 der Verfügung vom 29.11.2007) noch durch die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Ziffer 2 der Verfügung vom 29.11.2007) vollziehbar ausreisepflichtig geworden.

1) Nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist die Ausreisepflicht vollziehbar, wenn der sonstige Verwaltungsakt, durch den der Ausländer nach § 50 Abs. 1 ausreisepflichtig wird, vollziehbar ist. Gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht.

Offen bleiben kann, ob das Aufenthaltsrecht des Antragstellers erloschen ist.

Der Antragsteller ist als Kind türkischer Arbeitnehmer unstreitig im Besitz eines Aufenthaltsrechtes nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 gewesen. Die Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz hat für einen Ausländer, dem ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei zusteht, nur deklaratorische Bedeutung (siehe § 4 Abs. 5 AufenthG). Das Freizügigkeitsrecht türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation gilt gem. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH, Urt. v. 07.05.2005 - C-373/03 - (Aydinli) kann das Aufenthaltsrecht als Folge des Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das - wie hier - dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers zusteht, der - wie der Antragsteller - die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllt, (nur) in zwei Fällen Beschränkungen unterliegen: a) wenn der Aufenthalt des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats gem. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 durch das persönliche Verhalten des Betroffenen die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährdet, und b) wenn der Betroffene das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (EuGH, Urt. v. 07.07.205 - C-373/03 - unter Hinweis auf das Urt. des EuGH v. 11.11.2004 in der Rechtssache C-467/02, Cetinkaya, Slg. 2004, I-000, Randnr. 34). Sein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 kann der Antragsteller daher allein durch die Ausweisung verloren haben.

Der Umstand der Ausweisung selbst hätte bereits zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 geführt, wenn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf Berechtigte nach dem ARB 1/80 Anwendung finden würde. Nach dieser Vorschrift lassen Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsakts, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt. Bedenken gegen eine Anwendbarkeit des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf Berechtigte nach dem ARB 1/80 ergeben sich daraus, dass die Vorschrift des § 84AufenthG gem. § 11 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU nicht für Unionsbürger gilt, der gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken jedoch in möglichst gleicher Weise ausgestaltet sein sollte wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger (so Hamburgisches OVG, B. v. 09.05.2007, 2 Bs 241/06, Juris, zum AufenthG 2004; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 03.08.2004, BVerwGE 121, 315, 320 ff. und Hess. VGH, Urt. 25.06.2007 - 11 UE 62/07 -, Juris, Rdnr. 29; anderer Ansicht GK-AufenthG, Loseblattkommentar, § 84 Rdnr. 14 ff. Hailbronner; Loseblattkommentar, AufenthG, § 84 Rdnr. 21. Danach sollen türk. Staatsangehörige mit Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 nicht die gleiche verfahrensrechtlich privilegierte Stellung wie Unionsbürger haben und § 84 AufenthG deshalb auf sie anzuwenden sein.). Es spricht aber viel dafür, dass die bloße Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen mit Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 keine Wirksamkeit i.S.v. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entfaltet und zudem § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG auf das Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht anwendbar ist. Denn dieses Aufenthaltsrecht ist in § 51 AufenthG im Gegensatz zu § 50 AufenthG nicht ausdrücklich erwähnt und auch der Wortlaut des § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG spricht dagegen, weil von dem Erlöschen eines Aufenthaltstitels und nicht eines Aufenthaltsrechts die Rede ist.

Im Hinblick auf das Verbot der Besserstellung von türkischen Staatsangehörigen gegenüber Unionsbürgern nach Art 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.08.2007 - 1 C 47.06 - Juris) wird man davon auszugehen haben, dass hinsichtlich Ausweisung und Abschiebung türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 herleiten können, im Vergleich zu Unionsbürgern aber jedenfalls keinem höheren Schutz unterliegen. Unionsbürger sind gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz (FreizügG/EU) i.d.F. des am 28.08.2007 in Kraft getretenen Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (BGBl. I 2007, 2. 1970 ff., Seite 1995) ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht (vgl. dazu Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 8. Aufl., München 2005, AufenthG, § 4 Rdnr. 116, der die Auffassung vertritt, das Aufenthaltsrecht aus Art. 6 und 7 ARB 1/80 ende wie die Freizügigkeit mit Eintritt einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentl. Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit durch einen weiteren Aufenthalt des Ausländers, sofern diese Folge nicht unverhältnismäßig wirke, und wie bei Unionsbürgern wäre daher eine förmliche Feststellung dieser Beendigung die sachgerechte Maßnahme) Das Wort "unanfechtbar" ist in § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügigG/EU mit der vorgenannten Gesetzesänderung gestrichen worden. Bei Bürgern de Europäischen Union setzt der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt aufgrund einer Ausweisung infolge von Straffälligkeit allerdings voraus, dass die qualifizierten Voraussetzungen des § 6 FreizügG/EU erfüllt sind. Mit dem Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (a.a.O., Seite 1970) ist in der Regelung über die Ausreisepflicht von Unionsbürgern in § 7 Abs. 1 FreizügG/EU folgender Satz 5 angefügt worden: "Wird ein Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gestellt, darf die Abschiebung nicht erfolgen, bevor über den Antrag entschieden wurde". Daraus ist zu folgern, dass die Ausreisepflicht von EU-Bürgern über eine Anordnung des Sofortvollzugs vor Unanfechtbarkeit des die Ausreisepflicht begründenden Verwaltungsakts durchgesetzt werden kann. Wegen des Verbot der Besserstellung von türkischen Staatsangehörigen mit einem Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 wird dies entsprechend auch für diese türkischen Staatsangehörigen anzunehmen sein. Dabei wird die Begründung einer vollziehbaren Ausreisepflicht auch bereits mit dem Erstbescheid der Ausweisung möglich sein und nicht erst mit dein Erlass des Widerspruchsbeschelds, weil Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, wonach Ausweisung nur in dringenden Fällen ausnahmsweise ohne vorherige Prüfung der Zweckmäßigkeit durch eine zweite Stelle (Widerspruchsbehörde) zulässig waren, mit Wirkung vom 30.04.2006 durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG aufgehoben wurde (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.08.2007 - 1 C 47.08 - Juris, Rdnr. 27).

Das alles bedarf hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung.

Der Antragsteller ist nämlich aufgrund der Ausweisung (Ziffer 1 der Verfügung vom 29.11.2007) jedenfalls nicht gem. § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig geworden. Er besaß ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80, das durch eine den erforderlichen materiellen Anforderungen (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -) genügende Ausweisung gem. Art. 14 ARB 1/80 zwar erloschen sein könnte, so dass er gem. § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig sein könnte. Der Antragsteller ist durch die Ausweisung aber nicht gem. § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig geworden, weil sein dagegen eingelegter Widerspruch aufschiebende Wirkung hat und ein Sofortvollzug der Ausweisung nicht gem. 80 Abs. 2 Nr. 4 im öffentlichen Interesse angeordnet wurde.

Da die Behörde offenbar von einer sofortigen Vollziehbarkeit der Ausweisung ausgeht, ist festzustellen, dass der Widerspruch insoweit aufschiebende Wirkung entfaltet.

2) Die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des Antragstellers ergibt sich hier auch nicht aus der erfolgten Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Ein Ausländer, der ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 innehat, ist gem. § 50 Abs. 1 AufenthG erst dann zur Ausreise verpflichtet, wenn dieses Aufenthaltsrecht nicht mehr besteht (vgl. insoweit Hess. VGH, Urt. v. 25.06.2007 - 11 UE 53/07 - Juris, wonach der Verlust des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 ARB 1/80 erst mit Bestandskraft der Ausweisung eintreten soll).

Das folgt schon aus dem eindeutigen Wortlaut des § 50 Abs. 1 AufenthG i.F.d. Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, weil diese Norm nur auf konstitutive Aufenthaltstitel anzuwenden ist, nicht aber auf den nur deklaratorischen nach § 4 Nr. 5 AufenthG für nach dem ARB 1/80 Berechtigte (vgl. OVG Hamburg, B. v. 09.05.2007, 4 Bs 241/06, Juris, mit Verweis auf VG Karlsruhe, Beschluss vom 29.05.2008 - 9 K 2044/05 - NVwZ-RR 2007, 202; a.A. GK-AufenthG, § 84 Rdnr. 14, und Hailbronner, Loseblattkommentar, Stand Aug. 2008, AufenthG, § 84 Rdnr. 21). Gegen die Anwendbarkeit des § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG auf die Aufenthaltstitel von Aufenthaltsberechtigten nach Art. 7 ARB 1/80 spricht nicht nur der Wortlaut des § 50 Abs. 1 AufenthG, sondern auch, dass es mit den hohen materiellen Anforderungen an die Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen mit Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 schwerlich in Einklang stehen kann, die Ausweisungsgründe nur im Rahmen der Ablehnung eines Aufenthaltstitels einer Evidenzprüfung zu unterziehen und damit letztlich über das Verfahrensrecht auszuhöhlen. [...]