VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 19.06.2007 - 6 K 729/05.A - asyl.net: M14815
https://www.asyl.net/rsdb/M14815
Leitsatz:

Asylanerkennung eines Anhängers von Falun Gong aus China.

 

Schlagwörter: China, Drittstaatenregelung, Reiseweg, Luftweg, Falun Gong, Glaubwürdigkeit, Verhaftung, Inhaftierung, Misshandlung, Folter, Umerziehungslager, Administrativhaft, Strafverfahren, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, exilpolitische Betätigung, Überwachung im Aufnahmeland
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AsylVfG § 26a; GG Art. 16a Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Asylanerkennung eines Anhängers von Falun Gong aus China.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist begründet.

Der als vorverfolgt anzusehende Kläger ist als Asylberechtigter anzuerkennen, weil er bei einer Rückkehr in die Volksrepublik China vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher wäre (unten I.). Aus denselben Gründen liegen bei ihm auch Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 1 AufenthG vor (unten II.). [...]

I. [...] Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung vom erkennenden Einzelrichter ausführlich zu seinem Verfolgungsschicksal in der VR China befragt worden. Der Kläger hat hier plausibel und gut nachvollziehbar geschildert, dass er sich bereits seit dem Jahre 1996 in der Falun-Gong-Bewegung betätigt hat, zunächst als einfacher Praktizierender, später als Gruppenleiter. Die Glaubhaftigkeit seiner Schilderungen wird bestätigt durch die glaubhaften Angaben seiner Schwester in deren zeugenschaftlichen Vernehmung. Nach den dem Gericht vorgelegten Erklärungen von Mitgliedern der Bremer Falun-Gong-Gruppe hat sich der Kläger bereits kurze Zeit nach seiner Einreise nach Deutschland der Gruppe angeschlossen. Er habe bereits zum Zeitpunkt des Eintritts in die Gruppe über Vorkenntnisse hinsichtlich der Falun-Gong-Übungen verfügt. Auch dies spricht dafür, dass der Kläger bereits in seinem Heimatland Falun Gong betrieben hat.

Detailreich und anschaulich hat der Kläger zudem vom Anlass und den näheren Umständen seiner Verhaftungen in den Jahren 1999, 2000 und 2001 berichtet. Er hat im Einzelnen geschildert, wie er im Zusammenhang mit den Verhaftungen in 2000 und 2001 geschlagen und misshandelt wurde. Eingehend hat er von der Unterbringung in einem Umerziehungslager berichtet, die sich an die Verhaftung im August 2000 angeschlossen hat. Er beschrieb, wie er sich dann aus Angst vor einer sich für ihn abzeichnenden weiteren Verhaftung zur Ausreise entschlossen hat. [...]

Den Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Bescheid, wonach eine fehlende Mitwirkung im Verfahren geeignet ist, die Glaubhaftigkeit des Vortrags eines Asylsuchenden in Frage zu stellen, ist im Grundsatz zuzustimmen. Auch der Umstand, dass ein Asylsuchender, wie hier der Kläger, nach einem längeren Aufenthalt im Bundesgebiet erst im Angesicht einer drohenden Aufenthaltsbeendigung einen Asylantrag stellt, gibt Anlass, seinem Vortrag grundsätzlich mit besonderer Skepsis zu begegnen. Dem Kläger ist es jedoch gelungen, die insbesondere aus der späten Antragstellung und seiner Handlungsweise im Anhörungstermin resultierenden Zweifel an seiner Glaubhaftigkeit auszuräumen. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt, dass er sich wegen der ihm erteilten Aufenthaltsgenehmigung zunächst sicher gefühlt und auf eine Besserung der Situation in seinem Heimatland gehofft habe. In seinen Ausführungen wurde zudem deutlich, dass er sich mit Rücksicht auf seine noch in der VR China lebenden Eltern zunächst noch eine eventuelle Rückkehroption für sein Heimatland offen halten wollte. In der mündlichen Verhandlung trat zudem deutlich zu Tage, dass die Handlungen des Klägers gegenüber Behörden nach seiner Einreise nach Deutschland wohl wesentlich auch von dem Rat und den Empfehlungen seiner älteren und im Innenverhältnis erkennbar dominanten Schwester bestimmt waren. [...] Zugunsten der Glaubwürdigkeit des Klägers fällt auch ins Gewicht, dass er sich bereits kurz nach seiner Einreise in Bremen einer Falun-Gong-Gruppe angeschlossen und seine öffentliche Betätigung für die Falun-Gong-Bewegung schon lange vor der Asylantragstellung aufgenommen hatte. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger mit seinem Engagement für Falun Gong aufenthaltsrechtliche Zwecke verfolgt hat.

c. Die Schilderungen des Klägers über sein Verfolgungsschicksal in der VR China decken sich zudem im Wesentlichen mit dem, was dem Gericht aufgrund der ihm vorliegenden Erkenntnismaterialien über das Vorgehen der chinesischen Sicherheitsbehörden gegen Anhänger oder Unterstützer der Falun-Gong-Bewegung im Speziellen und über chinesische Ermittlungsmethoden und Haftbedingungen im Allgemeinen bekannt ist.

Nach dem "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik China" des Auswärtigen Amtes vom 30.11.2006 (Lagebericht 2006) ist die Falun-Gong-Bewegung, die von der staatlichen Führung wegen ihres hohen Organisationsgrades als Bedrohung angesehen wird, seit dem Juli 1999 verboten. Eine in jenem Jahr von der Bewegung vor dem Regierungsviertel Zhongnanhai veranstaltete Schweigedemonstration von über 10.000 Personen habe die Staatsführung überrascht und eine groß angelegte Verfolgungskampagne nach sich gezogen, die nach einer Selbstverbrennung von fünf Falun-Gong-Anhängern am 24.01.2001 auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" landesweit verstärkt worden sei. Die Verbreitung von Flugblättern mit Falun-Gong-Inhalten gelte aufgrund von Bestimmungen vom Juni 2001 als "staatsfeindliches Verbrechen". Selbst lediglich praktizierende einfache Anhänger der Bewegung müssten mit Festnahme und Überstellung in ein Umerziehungslager rechnen. Bisher sei es zu Festnahmen von über tausend Falun-Gong-Anhängern gekommen. In der Informationsschrift "Volksrepublik China, Falun Gong, September 2006" des Informationszentrums Asyl und Migration des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge führt die Beklagte in Auswertung einschlägiger Presseberichte aus, dass in den 19 nach dem Verbot der Bewegung folgenden Monaten nach unterschiedlichen Angaben 50.000 Personen inhaftiert, 25.000 in Umerziehungslagern festgehalten, 800 in psychiatrische Anstalten eingewiesen, 155 durch Folter in der Haft oder im Polizeigewahrsam getötet, 242 verurteilt sowie hohe Haftstrafen von bis zu 16 Jahren gegen hohe Funktionäre und Armeeangehörige verhängt worden seien. Das Falun-Gong-lnformationszentrum habe im April 2006 gemeldet, dass seit dem Verbot 1999 Hunderttausende widerrechtlich festgenommen, 6.000 Personen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt und 2.829 getötet worden seien (Seite 17). Amnesty International berichtete in einem Gutachten vorn 17.08.2004, dass es nicht erlaubt sei, an öffentlichen Orten Spruchbänder, Bilder oder sonstige Zeichen oder Symbole zu zeigen, die für Falun Gong stünden. Es sei verboten, an öffentlichen Orten Bücher, Kassetten oder sonstige Medien zu verbreiten, in denen Falun Gong gefördert werde. Anhänger und Unterstützer von Falun Gong kannten strafrechtlich verfolgt werden. Auch werde extensiv von der Verhängung von Administrativhaft gegen Falun-Gong-Anhänger Gebrauch gemacht. Amnesty International sei eine Vielzahl von Berichten bekannt geworden, dass es an den Haftorten zu zahlreichen Fällen von Folter und Misshandlung gekommen sei. Die Falun-Gong-Bewegung selbst gebe die Zahl ihrer seit dem Verbot in der Haft zu Tode gekommenen Personen mit über 990 an. Die chinesischen Behörden gingen weiterhin mit großer Härte gegen die Falun-Gong-Bewegung vor.

Bezüglich der Vorgehensweisen staatlicher Sicherheitsorgane in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren führt das Auswärtige Amt im Lagebericht 2006 aus, dass es Übergriffe durch Polizei- und Strafvollzugsorgane gebe, die auch nach chinesischem Recht rechtswidrig seien. Dazu gehörten u.a. die Erpressung von Geständnissen durch Folter sowie die Misshandlung von Gefangenen. Die chinesische Regierung und die staatlich gelenkte Presse räumten die Existenz von Folter offen ein, stellten diese aber als vereinzelte Übergriffe unterer Amtsträger dar, gegen die man energisch vorgehe (Seite 26). Die Folter sei zwar offiziell verboten und es werde offiziell seitens der Regierung versucht, die Folter im Ermittlungsverfahren abzuschaffen oder zumindest einzudämmen. Die Kontrollmöglichkeiten der Zentralregierung in ländlichen Regionen und in entfernten Provinzen seien jedoch beschränkt. Auch ein UN-Sonderberichterstatter, der China im Jahre 2005 besucht habe, sei zu dem Schluss gekommen, dass Folter in China, vor allem in ländlichen Gebieten, noch weit verbreitet sei (Seite 29). Gegen Falun-Gong-Anhänger werde insbesondere auch das Instrument der sog. Administrativhaft eingesetzt (Seite 31). Von Falun Gong sei bekannt, dass der Bewegung eine große Zahl von staatsgefährdenden Delikten sowie anderen Straftaten vorgeworfen werde. Erfahrungsgemäß richte sich das Vorgehen der chinesischen Behörden gegen Mitglieder von als "sektiererisch" bewerteten Gruppen in erster Linie nach deren Öffentlichwirksamkeit wie Praktizieren an öffentlichen Plätzen oder aktive Mitgliederwerbung durch Verteilen von Informationen etc. (AA, Auskünfte an VG Chemnitz v. 09.02.2006 und VG Bremen v. 17.09.2004). Auch diejenigen, die Falun Gong Materialien herstellen oder vertreiben, ohne selbst der Bewegung anzugehören, müssten mit empfindlichen Strafen rechnen (AA, Auskunft an VG Karlsruhe v. 27.05.2000). In seinem Jahresbericht 2007 weist amnesty international ebenfalls darauf hin, dass Folterungen und Misshandlungen im Berichtszeitraum nach wie vor weit verbreitet seien. Zu den gängigen Foltermethoden gehörten Fußtritte, Schläge, Elektroschocks, das Aufhängen an den Armen, Anketten in schmerzhaften Positionen, Verbrennungen durch Zigaretten sowie Schlaf- und Nahrungsentzug. Bei den Bemühungen, das System der "Umerziehung durch Arbeit" abzuschaffen, seien keine Verbesserungen festzustellen gewesen. Dieses System ermögliche es den Behörden, Personen ohne Anklage oder Prozess in Haft zu halten. Es sei davon auszugehen, dass sich in ganz China hundertausende Menschen in Hafteinrichtungen der "Umerziehung durch Arbeit" befänden und dort in Gefahr seien, misshandelt oder gefoltert zu werden (Seite 121). Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt in ihrer Publikation "Volksrepublik China - Lageübersicht mit Schwerpunkt Tibet" vom 27.05.2003 aus, dass sich die allgemeine Menschenrechtssituation in China seit Beginn der "Verbrechensbekämpfungskampagne Strike Hard" im Jahr 2001 nochmals verschlechtert habe. Behörden, Militär und Polizei begingen Menschenrechtsverletzungen in großer Zahl. Ins Visier genommen würden neben dem organisierten Verbrechen und korrupten Beamten auch "Terroristen", "Separatisten", "Religiöse Extremisten" sowie Mitglieder "boshafter Kulte" wie Falun Gong. Weitere Probleme der Menschenrechtspraxis in China seien u.a. willkürliche Verhaftungen, unfaire Gerichtsverhandlungen und Misshandlung und Folter in Haftanstalten (Seite 8). Mit besonderer Brutalität gehe die Polizei gegen gegenüber Falun-Gong-Praktizierenden vor. Die Gewaltanwendung reiche hier von Stockschlägen bei der Verhaftung, äußerst harten Haftbedingungen über Folter bis zu extralegaler Tötung (Seite 12).

d. Bei einer Rückkehr nach China wäre der als vorverfolgt anzusehende Kläger dort nicht mit hinreichender Sicherheit vor einer erneuten politischen Verfolgung sicher. Es kann nicht mit dem erforderlichen Grad an Sicherheit ausgeschlossen werden, dass sich für den Kläger die Gefahr einer erneuten Verhaftung und damit einhergehender Misshandlungen und Folterungen - auch in Falle einer freiwilligen Rückkehr - bei den Einreisekontrollen erneut realisieren würde. Der Kläger liefe dabei nicht nur Gefahr, als mutmaßlicher Straftäter Opfer allgemein bestehender unzulänglicher Verhältnisse und Bedingungen im chinesischen Strafermittlungsverfahren zu werden. Vielmehr würden die staatlichen Maßnahmen an eine ihm unterstellte weltanschauliche Einstellung bzw. an die Zugehörigkeit oder Unterstützung einer von der Staatsführung als regimekritisch und den Führungsanspruch der KP Chinas in Frage stellenden Gruppe anknüpfen. Da nach der oben dargestellten Auskunftslage die staatlichen Stellen der VR China in besonders drastischer Weise gegen mutmaßliche Mitglieder oder Unterstützer der Falun-Gong-Bewegung vorgehen, wäre der Kläger im besonderen Maße gefährdet, in Anknüpfung an asylrechtlich relevante Merkmale Opfer einer flüchtlingsrechtlich erheblichen Beeinträchtigung oder Schädigung zu werden.

Eine Gefährdung folgt zunächst aus dem Umstand, dass der Kläger bereits in der Vergangenheit in seinem Heimatland den dortigen Sicherheitsbehörden als Falun-Gong-Anhänger aufgefallen ist und er als solcher bei einer Wiedereinreise identifiziert werden könnte. Die Verfolgungsgefahr resultiert zudem aus seinem öffentlichen Eintreten für die Falun-Gong-Bewegung im Bundesgebiet. Der Kläger hat im Gerichtsverfahren durch die Vorlage von Fotos und schriftlichen Erklärungen anderer Mitglieder seiner Bremer Gruppe nachgewiesen, dass er mehrfach an öffentlichen und öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen der Falun Gong insbesondere auch anlässlich des Staatsbesuches des chinesischen Staatspräsidenten in Deutschland teilgenommen hat. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ergänzende Ausführungen zu seiner Betätigung für Falun Gong im Bundesgebiet gemacht. Protestkundgebungen, an denen sich der Kläger beteiligte, waren danach teilweise unmittelbar gegen in der Bundesrepublik residierende staatliche Stellen der VR China gerichtet.

Nach den dem Gericht vorliegenden Auskünften ist davon auszugehen, dass die Aktivitäten von Falun-Gong-Anhängern im Ausland von den chinesischen Sicherheitskräften beobachtet werden. In einer Auskunft vom 09.02.2006 an das VG Chemnitz teilt das Auswärtige Amt mit, dass davon auszugehen sei, dass die VR China nachrichtendienstliche Mittel gegen Chinesen im Ausland anwende, die Falun Gong praktizierten bzw. Mitglieder der Bewegung seien, und dass die gewonnenen Erkenntnisse an die chinesischen Sicherheitsbehörden weitergegeben würden. Die betroffenen Personen müssten u.U. nach ihrer Rückkehr nach China mit Observierung oder Verhör, ggf. auch mit Administrativhaft rechnen. Amnesty International machte bereits in einer Stellungnahme für das VG Karlsruhe vom 17.07.2000 darauf aufmerksam, dass Berichte darauf hindeuteten, dass die chinesischen Behörden "schwarze Listen" über im Ausland lebende Anhänger des Falun Gong erstellt hätten. Es sei damit zu rechnen, dass Personen die in die VR China einreisten, darauf überprüft würden, ob sie als Anhänger des Falun Gong bekannt seien. Das Auswärtige Amt bestätigt zudem in seinem Lagebericht 2006 den Fall eines von den deutschen Innenbehörden im März 2005 nach China zurückgeführten Falun-Gong-Anhängers, der wegen seiner im Ausland vorgenommenen Falun-Gong-Aktivitäten kurz nach seiner Ankunft in ein Umerziehungslager eingewiesen worden ist (Lagebericht 2006, S. 20). [...]

II. [...] Im Hinblick auf die begehrte Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der VR China vorliegen, ist die Klage ebenfalls zulässig und begründet. [...]