VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 02.12.2008 - unbekannt - asyl.net: M14828
https://www.asyl.net/rsdb/M14828
Leitsatz:

Der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 73 Abs. 3 AsylVfG setzt ebenso wie der Widerruf der Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung voraus, dass eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der maßgeblichen Verhältnisse eingetreten ist, die eine Wiederholung der Gefährdung mit hinreichender Sicherheit ausschließt; die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan hat sich in den letzten Jahren verschlechtert; extreme Gefahrenlage auch für junge, alleinstehende, arbeitsfähige Männer ohne bedarfsgerechte Qualifikation oder familiären Rückhalt in Afghanistan.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Widerruf, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Verpflichtungsurteil, Rechtskraft, Bindungswirkung, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Sicherheitslage, politische Entwicklung, Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, RANA-Programm, IOM, Kabul
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 3; AufenthG § 60 Abs. 7; VwGO § 121
Auszüge:

Der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 73 Abs. 3 AsylVfG setzt ebenso wie der Widerruf der Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung voraus, dass eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung der maßgeblichen Verhältnisse eingetreten ist, die eine Wiederholung der Gefährdung mit hinreichender Sicherheit ausschließt; die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan hat sich in den letzten Jahren verschlechtert; extreme Gefahrenlage auch für junge, alleinstehende, arbeitsfähige Männer ohne bedarfsgerechte Qualifikation oder familiären Rückhalt in Afghanistan.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet.

Der durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 16. Juli 2008 ausgesprochene Widerruf hinsichtlich der mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 25. Juni 1998 getroffenen Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 (jetzt Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) hinsichtlich des Zielstaates Afghanistan ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 1.11.2005 -1 C 21/04-, InfAuslR 2006, 244; Urteil vom 19.9.2000 - 9 C 12/00 -, InfAuslR 2001, 53) ist nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung zu widerrufen, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend derart verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht. Angesichts des Umstandes, dass der Wortlaut des § 73 Abs. 3 AsylVfG dem des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Wesentlichen entspricht, sind diese Grundsätze auch bei einem Widerruf von Abschiebungsverboten heranzuziehen.

Beruht die Feststellung eines Abschiebungshindernisses durch das Bundesamt auf einem rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Verpflichtungsurteil - wie hier dem Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 16. April 1998 - 1/1 E 33145/94 -, das in dem ersten Widerrufsverfahren durch Urteil vom 12. Mai 2004 - 7 E 923/04.A(2) bestätigt wurde, ist zusätzlich zu beachten, dass die Rechtskraft dieser Entscheidung bei unveränderter Sachlage die Aufhebung der Feststellung durch das Bundesamt hindert. Dies folgt jedenfalls aus § 121 VwGO, wonach rechtskräftige Urteile die Beteiligten binden, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. § 73 Abs. 3 AsylVfG, auf den sich das Bundesamt hier beruft, befreit nicht von dieser Rechtskraftbindung, sondern setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung der Rücknahme oder dem Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nicht entgegensteht. Dies hat der früher für das Asylrecht zuständige 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts bereits grundsätzlich für den Fall einer rechtskräftigen Verpflichtung zur Asylanerkennung und deren Rücknahme nach § 73 Abs. 2 AsylVfG entschieden (Urteil vom 24.11.1998 - BVerwG 9 C 53.97 -, BVerwGE 108, 30 (33 f.); vgl. auch Urteil vom 8.12.1992 - BVerwG 1 C 12.92 -, BVerwGE 91, 256 (258) m.w.N.). Nichts anderes gilt hier für das Verhältnis zwischen der rechtskräftigen Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG 1990 bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG und der nachfolgenden behördlichen Aufhebung der in Befolgung des Urteils getroffenen Feststellung gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG (BVerwG, Urteil vom 18.09.2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118). Eine Lösung der Bindung an ein rechtskräftiges Urteil kann deshalb nur eintreten, wenn die nachträgliche Änderung der hier allein in Frage stehenden - Sachlage entscheidungserheblich ist (BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O., S. 258). Dies ist jedenfalls im Asylrecht nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist. Die Rechtskraft dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit (BVerwG, Urteil vom 8.12.1992, a.a.O., S. 259). Zweck des § 121 VwGO ist es, zu verhindern, dass die aus einem festgestellten Tatbestand hergeleitete Rechtsfolge, über die durch Urteil entschieden worden ist, bei unveränderter Sach- oder Rechtslage erneut - mit der Gefahr unterschiedlicher Ergebnisse - zum Gegenstand eines Verfahrens zwischen denselben Beteiligten gemacht wird (BVerwG, Urteil vom 24.11.1998, a.a.O., S. 33).

Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hatte in seinem Urteil vom 16. April 1998 - 1 E 33145/94.A(1) - die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 43 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 damit begründet, dass eine extreme Gefahrenlage für den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan gegeben sei. [...]

Es entspricht der Kammerrechtsprechung, dass man auch nicht davon ausgehen kann, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan für Rückkehrer, seit der Anerkennung des Klägers im Jahre 1998 aufgrund des Urteils des VG Wiesbaden vom 16.04.1998, bestätigt durch Urteil des VG Wiesbaden vom 12.05.2004, erheblich in einem positiven Sinne derartig geändert hat, dass auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass der Kläger bei einer Abschiebung in eine ähnlich bedrohliche Lage käme, wie vor dem Widerruf bestandskräftig festgestellt. Das Bundesamt hat nicht den Beweis erbracht, dass sich die tatsächliche Situation - insbesondere für Rückkehrer - in Afghanistan so erheblich, tiefgreifend und dauerhaft geändert haben, dass kein Schutz mehr benötigt wird und der Widerruf eines wiederholt gerichtlich festgestellten Abschiebungsverbot gerechtfertigt wäre.

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ist die Versorgungslage im gesamten Land als katastrophal anzusehen. [...]

Die Aussagen des sachverständigen Zeugen Georg David vor dem OVG Berlin-Brandenburg vom 27.03.2006, wonach es Übergangshilfen bis hin zu Wohnunterkünften und Startgeldern für Rückkehrer in Kabul gebe, halten den detaillierten und nachvollziehbaren Gegenargumenten des Dr. Danesch nicht Stand. Sowohl in seinen Aussagen vor dem OVG Berlin-Brandenburg am 05.05.2006 als auch in seinem neuesten und ausführlichen Gutachten an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 04.12.2006 legt Dr. Danesch dar, dass die Aussagen des Herrn David ein (jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt) gänzlich unzutreffendes Bild zeichnen und dass es in Wahrheit für freiwillig nach Afghanistan zurückkehrende (ehemalige) Flüchtlinge praktisch keine realistische, langfristige Existenz- und Überlebensmöglichkeit gibt, es sei denn, sie können auf familiären Rückhalt zurückgreifen. Gleiches folgt aus den Ausführungen von amnesty international in seinem asylinfo 1-2/2007 (Keine extreme Gefahrenlage in Afghanistan? Erkenntnisse zur Versorgungs- und Sicherheitslage und zum Rana-Programm), welche sich mit der Umsetzung des IOM-Programms in der Praxis auseinandersetzen. Auch nach dem Bericht "Zur Lage in Afghanistan" vom Informationsverbund Asyl vom 01.10.2006 stellt sich die Situation in Afghanistan als katastrophal dar. [...]

Der Hess. VGH hat in seinem Urteil v. 7.2.2008 - 8 UE 1913/06.A - zur Situation in Afghanistan u.a. zutreffend ausgeführt: [...]

Danach kann bereits aufgrund der vom Hess. VGH bis zum 7.2.2008 berücksichtigten Erkenntnislage nicht von einer nachhaltigen und stabilen Situation aufgrund einer erheblichen Veränderung der Verhältnisse ausgegangen werden. Vielmehr besteht nach wie vor eine höchst fragile Sicherheits- und katastrophale Versorgungslage.

Zu berücksichtigen ist zusätzlich, dass sich die Verhältnisse stetig weiter verschlechtert haben. [...]

Auch Bundesverteidigungsminister Dr. Franz-Josef Jung wird anlässlich der Übernahme des Auftrags für die schnelle Eingreiftruppe zum Schutz von Soldaten (Quick Reaction Force, QRF) im Norden Afghanistans in Masar-i-Sharif mit den Worten zitiert, dass ein "Risiko für Leib und Leben" bestehe und es "leider wahr ist, dass sich in der letzten Zeit die Sicherheitslage verschärft hat". Obwohl die Isaf auf inzwischen mehr als 52.000 Soldaten verstärkt wurde, hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan zugleich verschlechtert (WT, 01.07.2008, S. 2).

Die kritische Einschätzung der Sicherheitslage kommt auch in dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand: Februar 2008) zum Ausdruck. [...]

Auch die Versorgungslage ist weiterhin äußerst kritisch. [...]

Auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof kommt schließlich in seinem Urteil vom 24. April 2008 zu dem Ergebnis, dass die abschiebungsrelevante Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere im Raum Kabul und in der Provinz Paktia sich seit Anfang 2004 bis heute nicht so wissentlich verändert habe, dass der Widerruf der Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 73 Abs. 3 AsylVfG entgegen der Rechtskraftwirkung eines zugrundeliegenden Urteils möglich wäre; der bloße Zeitablauf oder eine veränderte rechtliche oder tatsächliche Bewertung reichten dafür nicht aus. [...]

Der Sachverständige Bernt Glatzer hat in seiner Auskunft an das OVG Koblenz vom 31.1.2008 in dem Verfahren 6 A 10748/07.OVG hinsichtlich der Existenzmöglichkeiten durch legale Arbeit für Rückkehrer ausgeführt:

"Legale Erwerbsmöglichkeiten sind für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche afghanische Staatsangehörige, die unfreiwillig aus Deutschland nach Kabul zurückkehren und dort nicht mit der Hilfe von Verwandten oder Bekannten bei ihrer (Wieder-) Eingliederung rechnen können - wenn man die Faktoren Zufall oder Glück außer Acht lässt, kaum gegeben, es sei denn, die Personen verfügen über besondere professionelle Qualifikationen. Abgeschobene Rückkehrer werden in Afghanistan nicht mit offenen Armen erwartet, besonders wenn sie als unqualifizierte Arbeitskräfte den nicht mehr aufnahmefähigen Arbeitsmarkt zusätzlich belasten. Der für gering- oder nicht ausgebildete Kräfte aussichtslose Arbeitsmarkt führt dazu, dass immer mehr aktive junge Menschen in die Illegalität abgleiten: (1) illegale Arbeit im benachbarten Ausland (Iran und Pakistan), (2) Drogenanbau, -Verarbeitung und -Handel. (Eine wachsende Zahl perspektivloser junger Menschen wird auch selbst drogenabhängig und gerät zur Beschaffung in das kriminelle Milieu). (3) Beitritt zu kriminellen Banden (Einbrüche, Raubüberfälle, Entführungen). (4) Beitritt zu nichtstaatlichen und damit illegalen Milizen von Warlords und anderen Kommandanten.

(5) Beitritt zu den bewaffneten Einheiten des antistaatlichen Widerstands, besonders der al-Qaida, der Hizb-e Islami, sowie der Taliban und ihrer Nachfolgeorganisationen.

Ich schätze die Gefahr, dass solche Rückkehrer wegen der schlechten Versorgungs- und Erwerbsmöglichkeiten in Kabul das zum Leben Notwendige an Unterkunft und Ernährung trotz der Unterstützung humanitärer Hilfsorganisationen nicht erlangen, als sehr hoch ein." [...]

Auch aufgrund dieser Auskunft ist die Kammer der Überzeugung, dass nicht nur Alte, Kranke, Behinderte, alleinstehende Frauen oder Minderjährige, sondern auch junge, alleinstehende, arbeitsfähige Männer ohne bedarfsgerechte Qualifikation oder familiären Rückhalt auch in Kabul weiterhin existenzbedrohenden Gefahren ausgesetzt wären.

Hinzu kommt, dass es dem Kläger aufgrund seiner besonderen persönlichen Situation und in seiner Person begründeten besonderen individuellen Risiken nach wie vor nicht zumutbar ist, nach Afghanistan zurückzukehren, da er einem deutlich erhöhtem Existenzrisiko ausgesetzt wäre und damit besonders schutzbedürftig ist.

Der Kläger, der bereits 1991 im Alter von 18 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland einreiste, lebt bereits seit 17 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Es dürfte für ihn aufgrund der Verwurzelung in die hiesigen Lebensverhältnisse - er ist verheiratet und seine Frau ist im 5 Monat schwanger - und seiner Entwurzelung hinsichtlich der Verhältnisse in Afghanistan geradezu unmöglich sein, sich im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wieder in die dortigen Lebensverhältnisse zu integrieren. Hinzu kommt, dass - wie bereits in den Erstasylverfahren festgestellt wurde - sich mittlerweile sämtliche Familienangehörigen im Ausland befinden. Hinzu kommt, dass er aufgrund der bislang widerspruchsfrei vorgetragenen Angaben des Klägers, die er in seiner informatorischen Anhörung nochmals aktualisiert hat und durch die Zeugin ... bestätigt wurden, nach wie vor einer erheblichen Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt wäre. [...]