Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei für Personen, die in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten sind.
Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei für Personen, die in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten sind.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05.11.2008, mit dem die Asylanerkennungen der Kläger und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, widerrufen und festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen, ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]
Den zu Grunde gelegten Erkenntnisquellen lässt sich nicht entnehmen, dass eine Wiederholung der von den Klägern vor ihrer Ausreise erlittenen Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher Veränderungen in der Türkei mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden kann, d.h. sich die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei seit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Saarlouis vom 04.06.1998 so einschneidend und dauerhaft geändert haben, dass die Kläger ohne Verfolgungsfurcht heimkehren könnten. [...]
Soweit das Bundesamt seine Entscheidung darauf stützt, dass die Kläger zu einem heute nicht mehr gefährdeten Personenkreis gehörten, da sie die PKK "insgesamt eher niederprofilig" unterstützt hätten, vermag das Gericht dieser Einschätzung nicht zu folgen. Nach den damaligen Feststellungen des Gerichts waren die Kläger in der Türkei in den Verdacht geraten, sich für die kurdische Belange zu engagieren, der Kläger Ziffer 1 darüber hinaus in den konkretisierten Verdacht, die PKK zu unterstützen. In Folge dessen war er mehrfach festgenommen und dabei auch schwer misshandelt und gefoltert worden. Damals wie heute ist aber grundsätzlich nicht erst derjenige gefährdet, der sich an gewaltsamen oder terroristischen Auseinandersetzungen der PKK beteiligt oder in größerem Umfang in die PKK eingegliedert oder gar Mitglied ist. Vielmehr kann die bereits damals vom Gericht aufgezeigte Gefahr von Folter und Misshandlungen auch für die Personen fortbestehen, die "nur" der Unterstützung der PKK verdächtigt werden.
Hinsichtlich der allgemeinen Lage in der Türkei ist dem Bundesamt zwar darin zu folgen, dass sich die dortigen Verhältnisse seit der Asylanerkennung der Kläger verändert haben. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang mehrere Gesetzespakete verabschiedet, deren Kernpunkte u.a. die Abschaffung der Todesstrafe, die Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, die Reform des nationalen Sicherheitsrates und Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten sind aber nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Die im Bemühen um den Beitritt zur Europäischen Union bis 2005 andauernden Reformen haben weder eine adäquate Umsetzung in der Rechtsprechung gefunden, noch für eine Liberalisierung im Vorgehen der Sicherheitskräfte gesorgt. Die meisten Vorschriften, mit denen Meinungsfreiheit eingeschränkt werden kann, existieren weiter und die Gerichte habe verstärkt auf andere Bestimmungen zurückgegriffen, um abweichende Meinungen zu bestrafen. Zum 18.07.2006 hat das türkische Parlament das sog. Anti-Terror-Gesetz verschärft. Es sieht eine wenig konkret gefasste Terror-Definition, eine Ausweitung von Straftatbeständen, die Schwächung der Rechte von Verhafteten und Ausweitung der Befugnisse der Sicherheitskräfte vor. Die Meinungsfreiheit wird weiter beschnitten und ermöglicht für viele Handlungen, die nicht in Zusammenhang mit Gewaltakten stehen, die Verurteilung als Beteiligung an Terrordelikten. Die Änderungen am ATG machen deutlich, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt, sondern dass deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (Oberdiek für SFH, Oktober 2007; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008). Hieran ändert auch die vom türkischen Parlament am 30.04.2008 beschlossene Reform des Strafrechtsparagraphen 301, der die Beleidigung des "Türkentums" unter Strafe stellte, nichts. Denn neben § 301 türkStGB gibt es mehr als ein Dutzend anderer Strafbestimmungen wie beispielsweise §§ 216, 300, 305, 318, 323 türkStGB, die die Meinungsfreiheit in der Türkei einschränken (vgl. StZ vom 21.04.2008 und 02.05.2008). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte. Die Vorzeichen bezüglich der Folter stehen eher auf Verschlechterung der Situation. Eine der Hauptursachen für das Fortbestehen von Folter und Misshandlungen wird in der nicht ausreichend effizienten Strafverfolgung von Foltertätern gesehen. Der Regierung ist es bisher nicht gelungen, Fälle von Folter und Misshandlungen in dem Maße einer Strafverfolgung zuzuführen, wie dies dem erklärten Willen entspricht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008; Oberdiek für SFH, Oktober 2007; Aydin, Gutachten vom 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 deutlich zurückgegangen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Im Jahr 2007 wurde jedoch im Vergleich zum Vorjahr erneut ein Anstieg um 40 Prozent der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung festgestellt (vgl. Oberdiek für SFH, Oktober 2007; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008: In 2007 Zunahme der Foltervorwürfe nach übereinstimmenden Aussagen von Menschenrechtsorganisationen).
Auch nach dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 06.11.2007 (abgedruckt unter ec.europa.eu) besteht noch die Gefahr von extralegalen Festnahmen und Misshandlungen sowie generell die Gefahr, ohne die Möglichkeit anwaltlichen Beistands oder ärztlicher Kontrolle festgenommen zu werden. In dem Bericht wird weiter beanstandet, dass es der Justiz an tatsächlicher Unabhängigkeit fehlt. Die Vielzahl von Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und die Zahl der Beschwerden bei Menschenrechtsorganisationen zeige, dass in diesem Bereich noch vieles im Argen liege. Die Zahl der neu eingegangenen Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Zeitraum 01.09.2006 bis 31.08.2007 sei höher als im selben Zeitraum des Vorjahres. Auch bei den offiziellen Menschenrechtsausschüssen seien 2006 mehr Beschwerden eingegangen als im vorausgegangenen Jahr. Nach wie vor werde von Fällen von Folter und Misshandlung berichtet, speziell in der Phase der polizeilichen Ermittlungen oder außerhalb von Polizeistationen. Es fehle an schnellen und unabhängigen Untersuchungen von Verletzungen der Menschenrechte durch die Sicherheitskräfte. Im Gegenteil würden solche Verfahren eher verschleppt, die Täter blieben daher straflos. Trotz des rechtlichen Rahmens, der Folter und Misshandlung verbiete, ereigneten sich solche Fälle, ohne wirksam bekämpft zu werden. Die zivilen und militärischen Gefängnisse öffneten sich nicht unabhängigen Beobachtern, die überprüfen könnten, ob das Folterverbot eingehalten werde. Ferner seien die Anklagen und Verurteilungen wegen gewaltloser Meinungsäußerungen ein Objekt ernsthafter Besorgnis. Die Zahl der deswegen angeklagten Personen habe sich 2006 im Vergleich zu 2005 verdoppelt und sei im Jahre 2007 weiter gestiegen. Die restriktive Rechtsprechung des Kassationshofes und die andauernden Verfolgungen hätten zu einem Klima der Selbstzensur geführt.
Auch die Lage für Mitglieder der PKK und deren Unterstützer hat sich nicht entspannt, sondern eher verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind. Eine weitere Verschärfung der Situation im Südosten der Türkei wurde durch ein von Gendarmerie-Angehörigen verübtes Bombenattentat auf einen kurdischen Buchladen in der Stadt Semdinli am 09.11.2005 ausgelöst. Ein weiterer Höhepunkt der Spannungen wurde nach den friedlich verlaufenen Newroz-Feierlichkeiten erreicht, als es zwischen dem 28. und 31.03.2006 in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten der Türkei zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen oft mehreren Tausend meist jugendlichen Demonstranten sowie türkischen Sicherheitskräften kam (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Aufgrund der intensivierten militärischen Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Streitkräften und Guerillaverbänden der PKK ist der Druck der Straße auf die türkische Regierung, massiv gegen die PKK vorzugehen, immer größer geworden. Seit dem Überfall der PKK am 21.10.2007 auf einen Außenposten der türkischen Armee, bei dem 12 Soldaten getötet, weitere 17 verletzt und 8 Soldaten verschleppt wurden, ist in der Türkei eine besonders starke nationalistische Stimmung zu spüren (vgl. NZZ vom 24.10.2007 und vom 30.10.2007). Es kam zu zahlreichen Übergriffen gegen Kurden und mehrere Büros der pro-kurdischen Partei DTP wurden angezündet (vgl. NZZ vom 30.10.2007). Aufgrund des Einmarsches der türkischen Armee in den Nordirak im Februar 2008 drohte eine Destabilisierung der gesamten Region (vgl. SZ vom 22.02.2008). Aufgrund der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurde die Debatte über eine weitere Demokratisierung in der Türkei nunmehr von der Sicherheitsfrage verdrängt (vgl. NZZ vom 24.10.2007). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.
Es kann deshalb nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Kläger aufgrund des konkretisierten Verdachts, die PKK unterstützt zu haben, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen werden und dabei Gefahr laufen, misshandelt oder gefoltert zu werden, zumal auf Grund der damaligen mehrfachen, auch einmal mehrtägigen, Festnahmen des Klägers Ziffer 1 davon auszugehen ist, dass der Kläger registriert worden war (vgl. auch Kaya, Gutachten vom 26.09.2007 an VG Sigmaringen; ai, Auskunft vom 15.11.2007 an VG Sigmaringen). Rückkehrer müssen sich - wie jeder andere in die Türkei Einreisende auch - an der Grenze einer Personenkontrolle unterziehen. Die Kläger werden bei den Kontrollen an der Grenze oder am Flughafen insofern auffallen, als sie keinen Reisepass besitzen und sich seit längerer Zeit nach Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten haben. Damit werden sie die Grenzkontrolle nicht ungehindert passieren können, wie dies im Normalfall für einen türkischen Staatsangehörigen, der ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Rückreisedokument besitzt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007), der Fall sein wird. Dabei spielt es keine Rolle, dass der fluchtauslösende Sachverhalt über 15 Jahre zurück liegt. Eine Löschung aus Fahndungslisten oder sonstigen Registern allein aus Gründen des "Zeitablaufs" ist bei Personen, die verdächtigt werden, die PKK zu unterstützen angesichts des durch diese Personen nach Auffassung der türkischen Behörden ausgehenden Bedrohungspotentials wenig wahrscheinlich. Diese Gefährdungssituation wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt seit Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Für die Einschätzung der Gefährdung von vorverfolgt ausgereisten Personen ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen sich kein Mensch befand, der der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen Organisation verdächtigt wurde (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; ebenso OVG Münster, Urt. v. 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - juris -). Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden. Laut amnesty international spielen in Gerichtsverfahren Geständnisse als Beweismittel nach wie vor eine wesentliche Rolle. Daher werde bei Verhören durch die Polizei versucht, ein Geständnis zu erhalten, wobei auch heute noch psychischer und physischer Druck angewandt werde. Folter werde in der Türkei in den letzten Monaten wieder vermehrt eingesetzt wird (vgl. Auskunft vom 15.11.2007 an VG Sigmaringen). [...]