VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 26.01.2009 - A 11 K 4089/08 - asyl.net: M14855
https://www.asyl.net/rsdb/M14855
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Veränderung der Sachlage, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Antiterrorismusgesetz, Strafrecht, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Misshandlung, Folter, Rechtskraft, Bindungswirkung, Verpflichtungsurteil
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 121
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und im Hauptantrag auch begründet. [...]

Die Voraussetzungen für einen Widerruf des Flüchtlingsstatus des Klägers liegen nicht vor.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind - vorbehaltlich des Satzes 3 - die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. [...]

Seit dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 28.05.1999 sind keine Änderungen der maßgeblichen Verhältnisse in der Weise eingetreten, dass Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.

Dem Kläger wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da er wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK nach Einschätzung des Verwaltungsgerichts Stuttgart von politischer Verfolgung unmittelbar bedroht war. Die so begründete Verpflichtung durch das Urteil des Verwaltungsgericht Stuttgart vom 28.05.1999 war Grundlage und Gegenstand des Anerkennungsbescheides vom 27.07.1999.

Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid ausgeführt, die Sachlage in der Türkei habe sich grundlegend geändert; die Türkei habe erhebliche Fortschritte hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte gemacht. Konkrete Bezüge auf den Fall des Klägers in seiner speziellen Situation enthält die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids jedoch nicht.

Auch unter allgemeinen Gesichtspunkten liegen die Widerrufsvoraussetzungen nicht vor. Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament bislang acht Gesetzespakete verabschiedet (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 25.10.2007). Die Kernpunkte sind: Abschaffung der Todesstrafe, Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, Reform des nationalen Sicherheitsrates, Zulassung von Unterricht in anderen in der Türkei gesprochenen Sprachen als türkisch, die Benutzung dieser Sprache in Rundfunk und Fernsehen, erleichterte Bestimmungen über die rechtliche Stellung von Vereinen und religiösen Stiftungen, Neuregelung zur Erschwerung von Parteiverboten, Maßnahmen zur Verhütung sowie zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter.

Auch wenn mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets am 01.06.2005 die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt hat, hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht Schritt halten können (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008 und vom 11.09.2008). So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen, zumal die Reformgesetze häufig durch später erlassene Ausführungsbestimmungen konterkariert wurden (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). Minderheitenschutz und Religionsfreiheit sind nur eingeschränkt gewährleistet. In Bezug auf die Meinungsfreiheit haben die acht Gesetzespakete keine Änderungen bewirkt (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 28.05.2007 an VG Magdeburg). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007; Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg und vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 02.08.2005 an VG Sigmaringen; Aydin, Gutachten vom 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Mai 2006 und Oktober 2007). [...]

Auch nach dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 06.11.2007 (vgl. ec.europa.eu) besteht noch die Gefahr von extralegalen Festnahmen und Misshandlungen sowie generell die Gefahr, ohne die Möglichkeit anwaltlichen Beistands oder ärztlicher Kontrolle festgenommen zu werden. In dem Bericht wird weiter beanstandet, dass es der Justiz an tatsächlicher Unabhängigkeit fehlt. [...]

In der Rechtsprechung wird weiter nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. OVG Münster, Urteil vom 26.05.2004 - 8 A 3852/03.A - <Juris> = Asylmagazin 10/2004, 30; Urteil vom 19.04.2005 - 8 A 273/04.A - <Juris> -; Urteil vom 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - <Juris> - und Urteil vom 17.04.2007 - 8 A 2771/06.A; OVG Koblenz, Urteil vom 12.03.2004 - 10 A 11952/03 - <Juris> - = Asylmagazin 7-8/2004, 27; OVG Weimar, Urteil vom 18.03.2005 - 3 KO 611/99 -, Asylmagazin 7-8/2005, 34; OVG Greifswald, Urteil vom 29.11.2004 - 3 L 66/00 -, Asylmagazin 1-2/2005, 32; OVG Saarland, Urteil vom 01.12.2004 - 2 R 23/03 -, Asylmagazin 4/2005, 30; OVG Bautzen, Urteil vom 19.01.2006 - A 3 B 304/03 - und Urteil vom 25.10.2007 - A 3 B 238/05; VG Berlin, Urteil vom 01.03.2006, Asylmagazin 7-8/2006, 37 und Urteil vom 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32; VG Frankfurt, Urteil vom 02.03.2006, Asylmagazin 6/2006, 20; VG Weimar, Urteil vom 30.06.2005 - 2 K 20643/04 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 16.06.2006 - 26 K 1747/06 -; Urteil vom 24.08.2006 - 4 K 1784/06.A - <Juris> - und Urteil vom 24.01.2007 - 20 K 4697/05.A - <Juris> -; VG Ansbach, Urteil vom 06.03.2007, AuAS 2007, 141; VG Münster, Urteil vom 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - <Juris> -; VG Bremen, Urteil vom 30.06.2005 - 2 K 1611/04 -).

Entgegen der Einschätzung des Bundesamtes hat sich die Lage in der Türkei in den letzten Jahren auch nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft: Seit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Juni 2004 kam es vermehrt zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen türkischem Militär und der PKK-Guerilla, die seit Mai 2005 weiter eskaliert sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). Eine weitere Verschärfung der Situation im Südosten der Türkei wurde durch ein von Gendarmerie-Angehörigen verübtes Bombenattentat auf einen kurdischen Buchladen in der Stadt Semdinli am 09.11.2005 ausgelöst (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007). [...] Aufgrund der intensivierten militärischen Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Streitkräften und Guerillaverbänden der PKK ist der Druck der Straße auf die türkische Regierung, massiv gegen die PKK vorzugehen, immer größer geworden, denn die Zahl der bei den einzelnen Zwischenfällen getöteten Soldaten hat stetig zugenommen (vgl. Oehring, Gutachten vom 06.04.2008 an VG Stuttgart). [...]

In Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft. Danach werden mehr Taten als bisher als terroristisch eingestuft und Festgenommene erhalten später als bisher Zugang zu einem Anwalt. Die Gesetzesänderung erweitert weiter die Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Rechte von Verteidigern einzuschränken (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation - Oktober 2007). Damit werden Bürgerrechte, die im Hinblick auf einen EU-Beitritt durch die Reformgesetze gestärkt wurden, wieder eingeschränkt. Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme vom 29.10.2006 an VG Ansbach). Diese Gesetzesverschärfung zeigt, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat, sondern deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007; Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O). Aufgrund der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Militär wurde die Debatte über eine weitere Demokratisierung in der Türkei nunmehr von der Sicherheitsfrage verdrängt (vgl. NZZ vom 24.10.2007). Dies hat die türkischen Streitkräfte veranlasst, die Reformgesetze nicht nur zu diskreditieren, sondern sie offensiv zu missachten (vgl. Kaya, Gutachten vom 20.06.2007 an OVG Bautzen). Angesichts dieser Entwicklung ist völlig offen, ob der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.

Zwar hat das türkische Parlament unter dem Druck der Europäischen Union am 30.04.2008 eine Reform des Strafrechtsparagrafen 301 beschlossen, der die Beleidigung des "Türkentums" unter Strafe stellte. Aufgrund dieses Gesetzes wurden in den letzten Jahren tausende kritischer Intellektueller und Bürgerrechtler angeklagt und viele verurteilt (vgl. StZ vom 02.05.2008; Nützliche Nachrichten 412008, 6). Ersetzt wurde nunmehr der Begriff "Türkentum" durch „Türkische Nation", der Strafrahmen wurde reduziert und eine Anklage setzt jetzt die Zustimmung des Justizministers voraus. Auch die EU-Kommission verweist jedoch zu Recht darauf, dass es neben § 301 türkStGB mehr als ein Dutzend andere Strafbestimmungen (beispielsweise §§ 216, 300, 305, 318, 323 türkStGB) gibt, die die Meinungsfreiheit in der Türkei einschränken (vgl. StZ vom 21.04.2008 und vom 02.05.2008). Da viele Staatsanwälte und Richter in der Türkei immer noch die Überzeugung haben, dass den Menschen in wichtigen Dingen wie der Meinungsfreiheit nicht zu trauen ist, haben sie auch in Zukunft ein reichhaltiges Arsenal von Gummiparagrafen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit zur Hand (vgl. Weser Kurier vom 16.04.2008; StZ vom 21.04.2008). [...]

Es kann auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger - der nach den rechtskräftig gewordenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart von den Sicherheitskräften wegen Unterstützung der PKK in der Türkei gesucht worden war - aufgrund des Verdachts, Unterstützer von separatistischen Gruppierungen zu sein, bei einer Einreise in die Türkei einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen und vom 09.08.2006 an VG Berlin; Oberdiek, Gutachten vom 15.08.2007 an VG Sigmaringen; Taylan, Gutachten vom 21.12.2007 an VG Sigmaringen). Diese Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt seit vier Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Lagebericht vom 25.10.2007). Für die Einschätzung der Gefährdung ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen sich kein Mensch befand, der der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen Organisation verdächtigt wurde (vgl. Kaya, Gutachten vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; ebenso OVG Münster, Urteil vom 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - <Juris> -; OVG Lüneburg, Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 75/06 - <Juris> -). Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23.02.2006, Taylan, Gutachten vom 29.05.2006 an VG Wiesbaden; Kaya, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg).

Nach allem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind (ebenso der überwiegende Teil der auch neueren, bekannt gewordenen Gerichtsentscheidungen: u.a. OVG Bautzen, Urteil vom 23.03.2007 - A 3 B 372/05 -; OVG Münster, Urteil vom 27.03.2007 - 8 A 4728/05.A - <Juris> = Asylmagazin 7-8/2007, 28; VG Ansbach, Urteil vom 24.07.2007 - AN 1 K 07.30135 - <Juris> -; Urteil vom 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 - <Juris> - und Urteil vom 12.03.2008 - AN 1 K 07.30561 - <Juris> -; VG Münster, Urteil vom 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - <Juris> -; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.03.2007 - 4 K 172/07.A - <Juris> - und Urteil vom 05.09.2007 - 17 K 3754/07.A -; VG Oldenburg, Urteil vom 04.10.2007 - 5 A 4386/06 - <Juris> -; VG Minden, Urteil vom 10.03.2008 - 8 K 831/07.A; VG Lüneburg, Urteil vom 06.12.2006 - 5 A 34/06 -; VG Hamburg, Urteil vom 21.11.2006 - 15 A 429/06 - und Urteil vom 25.10.2007 - 15 A 387/07 - <Juris> -; VG Hannover, Urteil vom 30.01.2008 - 1 A 7832/05 -; VG Aachen, Urteil vom 26.03.2008 - 6 K 1094107.A - <Juris> -; VG Berlin, Urteil vom 13.10.2006, Asylmagazin 1-2/2007, 32 und Urteil vom 25.01.2008, Asylmagazin 3/2008, 17; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 04.03.2008 - 14a K 3288106.A - <Juris> -; VG Karlsruhe, Urteil vom 25.09.2007, Asylmagazin 11/2007, 17; VG München, Urteil vom 14.09.2007 - M 24 K 07.50342 - <Juris> - und Urteil vom 07.02.2008, AuAS 2008, 81). Dass die Beklagte im Lichte neuerer Erkenntnisse die konkrete Verfolgungsgefahr für den Kläger anders bewertet, also aus heutiger Sicht bei der damaligen Sachlage keinen Flüchtlingsstatus mehr gewähren würde, rechtfertigt den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.09.2000 a.a.O. und Urteil vom 08.05.2003 a.a.O.). Damit ist für den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes kein Raum.

Außerdem steht dem Widerruf der Flüchtlingszuerkennung die Rechtskraft des Urteils des VG Stuttgart vom 28.05.1999 entgegen. § 73 AsylVfG befreit nicht von der Rechtskraftbindung nach § 121 VwGO, sondern setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung der Rücknahme oder dem Widerruf der Asylanerkennung und der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.1998, BVerwGE 108,30). Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet erst, wenn eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage entscheidungserheblich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.09.2001, BVerwGE 115, 118 = NVwZ 2002, 345). Im Asylrecht ist dies nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.09.2001 a.a.O.). Die Unbeachtlichkeit der Rechtskraft eines asylrechtlichen Verpflichtungsurteils wurde demnach nur angenommen, wenn aufgrund langjähriger Bewertung der Verhältnisse im Herkunftsstaat kein Raum mehr blieb für die Annahme einer Gruppenverfolgung ethnischer Minderheiten oder wenn etwa die nachträgliche wesentliche Änderung der Sachlage aus einem politischen Umsturz im Heimatland resultierte (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.09.2001 a.a.O.). Die im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes zitierte geänderte Quellenlage genügt diesen Anforderungen nicht. [...]