VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Urteil vom 11.12.2008 - 2 K 230/08.KO - asyl.net: M15213
https://www.asyl.net/rsdb/M15213
Leitsatz:

Beachtliche Verfolgungsgefahr bei Rückkehr in die Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, Verdacht der Unterstützung, PKK, Grenzkontrollen, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Reformen, Folter, Misshandlung, Datenblätter, Fisleme, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Beachtliche Verfolgungsgefahr bei Rückkehr in die Türkei wegen Verdachts der Unterstützung der PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. [...]

Als Rechtsgrundlage für die angefochtene Widerrufsentscheidung kommt im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nach Lage der Dinge alleine § 73 AsylVfG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl, I S. 1970) in Betracht. [...]

Ausgehend von diesen Maßstäben erweist sich der Widerruf als rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) weiterhin vorliegen. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei derart geändert hätten, dass der Kläger eine Verfolgung in seinem Heimatland nicht mehr befürchten muss.

Bislang ist ungeklärt geblieben, ob der Kläger seine Heimat vorverfolgt verlassen hat, oder ob er unverfolgt ausgereist ist. Auch das Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 08. Januar 2002 enthält keine Ausführungen zu dieser Frage, die im Ergebnis aber auch offen bleiben kann. Denn selbst bei Anwendung des - für den Kläger ungünstigeren - "normalen" Prognosemaßstabs droht ihm auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in der Türkei.

Die gegenteilige Wertung des Bundesamtes in dem angegriffenen Widerrufsbescheid ist bereits deshalb fehlerhaft, weil das Bundesamt der Prüfung, ob sich die Menschenrechtslage in der Türkei entscheidend zugunsten des Klägers verändert hat, nicht konkret die Verhältnisse in der Türkei, die im Januar 2002 zur Anerkennung des Klägers geführt haben, zugrunde gelegt hat, um sie mit der heutigen Situation zu vergleichen. [...]

Konkrete Bezüge auf die Person des Klägers in seiner speziellen Situation enthält der Widerrufsbescheid nur insoweit, als es darin heißt, es bestehe kein konkreter Strafvorwurf gegen ihn, da die bloße Unterstützung bewaffneter Organisationen mittlerweile nicht mehr strafbar sei. Weiter führt das Bundesamt dann aber aus, dass Rückkehrer mit Schwierigkeiten zu rechnen hätten, wenn die Befragung bei den Grenzbehörden oder die Recherchen bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung der PKK begründen. Die Betreffenden würden dann an die Terrorbekämpfungseinheit der Polizei überstellt. In der Vergangenheit habe es dabei auch Fälle von Misshandlungen gegeben. [...]

Unabhängig davon ist auch nicht davon auszugehen, dass dem Kläger im Fall einer heutigen Rückkehr in die Türkei Verfolgungsmaßnahmen nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die von der Beklagten reklamierte entsprechende erhebliche Änderung der dortigen maßgeblichen Verhältnisse vermag die Kammer nicht festzustellen. Die bislang mit der Problematik befasst gewesenen Verwaltungsgerichte vertreten insoweit fast einhellig die Auffassung, dass sich zwar die Gesetzeslage in der Türkei verbessert, der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo jedoch nicht habe Schritt halten können, so dass es insbesondere nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, besonders in den ersten Tagen eines Polizeigewahrsams, komme, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen sei, dies wirksam zu unterbinden. Zudem habe sich aufgrund der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK im Jahre 2004 die Lage in der Türkei auch nicht etwa entspannt, sondern vielmehr verschärft. Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen wird insoweit exemplarisch Bezug genommen auf die Urteile des VG Stuttgart vom 30. Juni 2008 - A 11 K 304/07 - des VG Neustadt vom 02. Juni 2006 - 4 K 186/08.NW - des VG Aachen vom 26. März 2008 - 6 K 1094/07.A - des VG München vom 07. Februar 2008 - M 24 K 07.50978, des VG Frankfurt vom 14. Dezember 2007 - 6 E 3344/06.A, und des VG Hamburg vom 25. Oktober 2007 - 15 A 387/07 - (a.A. VG Ansbach, Urteil vom 03. April 2008 - AN 1 K 05.31304 -).

Dass die bloße Unterstützung bewaffneter Organisationen, wie die Beklagte in ihrem Bescheid ausführt, mittlerweile straffrei ist, dürfte jedenfalls im Zusammenhang mit den Einreisekontrollen nicht von entscheidungserheblicher Bedeutung sein. Die von den Geheimdiensten, der Polizei und der Gendarmerie geführten Datenblätter (sog. Fisleme) erfassen auch Personen, die in einem strafgerichtlichen Verfahren freigesprochen worden sind (vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 11. April 2003 an VG Stuttgart und vom 10. März 2006 an OVG Lüneburg; Oberdiek, Gutachten vom 24. Mai 2004 an VG Sigmaringen; Kaya, Gutachten vom 10.07.2004 an VG Sigmaringen; Aydin, Gutachten vom 0 1 . Juni 2004 an VG Sigmaringen; Dinc, Gutachten vom 18. Juni 2004 an VG Sigmaringen; Deutsche Botschaft, Auskunft vom 10. Februar 2006 an BAMF), so dass sich die Nachforschungen der Grenzbehörden nicht etwa nur auf Rückkehrer beziehen, denen der Vorwurf einer strafbaren Handlung gemacht wird. Begründen die Befragungen bei den Grenzbehörden oder die Recherchen bei den Heimatbehörden den Verdacht der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung der PKK, erfolgt eine Überstellung an die Anti-Terror-Abteilung der Polizei (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 15. August 2007 an VG Sigmaringen; OVG Koblenz, Urteil vom 12. März 2004 - 10 A 11952/03 - juris).

Hiervon ausgehend steht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass dem Kläger im Fall seiner Rückkehr in die Türkei schon bei den Einreisekontrollen eine menschenrechtswidrige Behandlung droht Die zuvor dargestellte Gefährdungssituation wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt seit Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein abgelehnter Asylbewerber gefoltert oder misshandelt wurde. Für die Einschätzung der Gefährdung des Klägers ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da der Kläger nach der Lebenserfahrung in den Augen der türkischen Behörden viel eher als ein abgelehnter Asylbewerber verdächtig sein dürfte, sich vor seiner Ausreise aus der Türkei in einer damals die Gefahr einer politischen Verfolgung begründenden Weise gegen den türkischen Staat engagiert zu haben. Dem kann der Kläger auch nicht etwa wirksam durch ein Verschweigen des ihm durch die Bundesrepublik Deutschland zuerkannten Schutzes begegnen, da ein solcher zum einen bereits angesichts der Dauer des zwischenzeitlichen Aufenthaltes von knapp acht Jahren nahe liegt und dem Kläger überdies im Falle einer Abschiebung mangels Reisepass vorläufige Reisepapiere ausgestellt werden müssten, aus denen der Aufenthaltszweck ersichtlich würde. [...]