VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 19.02.2009 - 35 A 314.08 - asyl.net: M15370
https://www.asyl.net/rsdb/M15370
Leitsatz:

Ist das tatsächliche Alter eines Ausländers zweifelhaft, so kann die Ausländerbehörde nicht aufgrund des Gesamteindrucks ein Mindestalter festsetzen, sondern muss eine weitere Sachaufklärung gem. § 49 Abs. 3, 6 und 10 AufenthG veranlassen.

 

Schlagwörter: D (A), Verteilung, unerlaubte Einreise, Minderjährige, Altersfeststellung, Sachaufklärungspflicht, Beweislast, Ausländerbehörde, eigene Sachkunde, Sachverständigengutachten, Textbausteine, Formular, Kindeswohl, Verwaltungsakt, Bekanntgabe, Handlungsfähigkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; AufenthG § 15a Abs. 1; AufenthG § 80; AufenthG § 49 Abs. 3; AufenthG § 49 Abs. 6; AufenthG § 49 Abs. 10
Auszüge:

Ist das tatsächliche Alter eines Ausländers zweifelhaft, so kann die Ausländerbehörde nicht aufgrund des Gesamteindrucks ein Mindestalter festsetzen, sondern muss eine weitere Sachaufklärung gem. § 49 Abs. 3, 6 und 10 AufenthG veranlassen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der Antrag des Antragstellers, eines guineischen Staatsangehörigen, die aufschiebende Wirkung der Klage VG 35 A 315.08 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 10. Oktober 2008 anzuordnen, hat Erfolg. [...]

Die mit dem angegriffenen Bescheid getroffene Regelung ist nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen und möglichen summarischen Prüfung nicht als offensichtlich rechtmäßig zu bewerten.

Rechtsgrundlage des angegriffenen Bescheides ist § 15a AufenthG. Nach dessen Abs. 1 wird ein unerlaubt eingereister Ausländer, der weder um Asyl nachsucht noch unmittelbar nach der Feststellung der unerlaubten Einreise in Abschiebungshaft genommen und aus der Haft abgeschoben oder zurückgeschoben werden kann, vor der Entscheidung über die Aussetzung der Abschiebung oder die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf die Länder verteilt. Mit Bescheid vom 10. Oktober 2006 verteilte der Antragsgegner den Antragsteller in die Erstaufnahmeeinrichtung nach Trier. Dieser Bescheid könnte indes nur rechtmäßig sein, wenn der Antragsteller bereits das 16. Lebensjahr vollendet hätte (vgl. § 80 AufenthG; Weiß, Die Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer nach § 15a Aufenthaltsgesetz, ZAR 2007, 279, 280). Nach seinen eigenen Angaben, an denen er durchgängig festhält, ist er jedoch am 4. November 1993 geboren und daher zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses und auch heute noch keine 16 Jahre alt. In seinem (Formular-) Bescheid vom 9. Oktober 2008 hat der Antragsgegner hingegen ein Lebensalter bzw. eine Altersstufe von mindestens 16 bis 18 Jahren (Stichtag: 31.12.1991) zugrunde gelegt. In einem Textbaustein heißt es u.a.:

"Auf dem Hintergrund des heute unter Einbeziehung einer/es Sprachmittler(s)in ausführlich geführten Gespräches und den daraus zum tatsächlichen Entwicklungsstand gewonnenen Eindrücken in Verbindung mit Ihrem äußeren Erscheinungsbild ist das von Ihnen abgegebene Lebensalter offensichtlich zu niedrig."

Es folgen weitere, teils handschriftlich ergänzte Formularabsätze. In dem Gesprächsprotokoll ist unter der Befragung zu den persönlichen Daten des Antragstellers in Handschrift nachgesetzt, dass der Antragsteller dem äußeren Anschein nach mindestens 20 Jahre alt sei. Ausgehend hiervon ist eine überzeugende Altersbestimmung des Antragstellers derzeit nicht ersichtlich (vgl. so zu einem ähnlichen Verfahren auch VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Juni 2007 - 13 K 8992/04.A -, zitiert nach juris), vielmehr erscheint das von ihm selbst angegebene Geburtsdatum durch die behördliche Einschätzung lediglich in Frage gestellt. Für diesen Fall bietet § 49 Abs. 3, 6 und 10 AufenthG der zuständigen Behörde die nötigen Möglichkeiten weiterer Ermittlungen. Denn bestehen Zweifel über das Lebensalter des Ausländers, so sind die zur Feststellung seines Lebensalters erforderlichen Maßnahmen - vgl. § 1 - 9 Abs. 6 AufenthG - zu treffen, wenn es zur Durchführung anderer (als in § 49 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG genannter) Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz erforderlich ist (§ 49 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG). Diese Ermittlungen sind dann auch von der Behörde durchzuführen (vgl. § 24 VwVfG; s.a. Hailbronner, AuslR, § 49 AufenthG Rdn. 15) und nicht, wie der Antragsgegner nach seinem Schriftsatz vom 4. Februar 2009 allerdings zu meinen scheint, vom Gericht. Das Lebensalter ist im Sinne des § 49 Abs. 3 AufenthG etwa zweifelhaft, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass persönliche Angaben unzutreffend sind (vgl. Hailbronner, a.a.O.). Hiervon geht der Antragsgegner vorliegend selbst aus. Es erscheint wenigstens fraglich, ob der Bescheid der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung vom 9. Oktober 2008 zur Beseitigung der Zweifel genügen könnte. Denn zur Begründung eines anderen als des angegebenen Alters sind lediglich der vorgedruckte Text und darin ein unbestimmter Gesamteindruck angeführt; eine detaillierte Beschreibung, worauf dieser Eindruck beruht, insbesondere zur Begründung der Annahme eines Unterschieds zur Selbstbeschreibung von weniger als zwei Lebensjahren, findet sich nicht. Weiter fehlt es - trotz einer Erklärung der Tätigkeit des Referats III F 6 im Allgemeinen - an einer hinreichenden Beschreibung der Qualifikation des Altersschätzenden für eine solch wesentliche Entscheidung, zumal die Senatsverwaltung mit Schreiben vom 2. Februar 2009 selbst mitteilt, dass die Altersschätzung so lange aufrechterhalten werde, bis ein medizinisches Gutachten mit entgegenstehendem Inhalt vorliege, und damit eine etwaige Zweifel beseitigende Qualifikation einer anderen Stelle anerkennt, ohne allerdings § 49 Abs. 3 AufenthG heranzuziehen. Die Zweifel dürften auch durch die Anmerkung, der Antragsteller sei nach dem äußeren Anschein mindestens 20 Jahre alt, die ebenfalls schon nicht weiter begründet ist, nicht als überwunden angesehen werden können (vgl. VG Düsseldorf, a.a.O.). Eine hinreichende Sachverhaltsermittlung durch den Antragsgegner erscheint danach fraglich.

Ergänzt sei ferner, dass bei Ungewissheit über den Tag der Geburt es das auch in § 12 VwVfG zum Ausdruck kommende gesetzliche Prinzip eines umfassenden Schutzes Minderjähriger gebietet, von dem späteren Zeitpunkt auszugehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 1984 - 9 C 156.83 -, zitiert nach juris). Zusätzliche Zweifel folgen im Übrigen weiter daraus, dass der Antragsteller zum hiesigen Verfahren neben seiner eigenen Angabe zum Geburtsdatum auch eine gutachterliche Stellungnahme einer Fachärztin für Allgemeinmedizin vom 24. November 2008 eingereicht hat, die sich für ein Lebensalter des Antragstellers von 15 Jahren ausspricht.

Damit kann die weitere Frage dahinstehen, ob der Antragsgegner den Bescheid vom 14. Oktober 2008 unmittelbar an den Antragsteller selbst übergeben konnte. Denn gegenüber einem Handlungsunfähigen darf die Behörde ohne Einschaltung des gesetzlichen Vertreters kein Verwaltungsverfahren durchführen. Insbesondere darf unmittelbar ihm gegenüber kein belastender Verwaltungsakt erlassen werden. Ein ihm persönlich bekanntgegebener Verwaltungsakt ist fehlerhaft. Dieser Fehler kann zwar durch Genehmigung des gesetzlichen Vertreters geheilt werden. Das gilt jedoch bei der Anfechtungsklage dann nicht, wenn sich der gesetzliche Vertreter - wie es hier der Fall wäre - gerade darauf beruft, dass der Antragsteller minderjährig gewesen sei (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Sind die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers zumindest als offen anzusehen, überwiegt in der weiteren Abwägung sein Aussetzungsinteresse. Dies ist schon dann begründet, dass nach dem oben Gesagten Zweifel an seinem zutreffenden Alter bestehen. Ihn träfe es indes ungleich härter, als unter 16-jähriger entgegen § 15a AufenthG verteilt zu werden, als es den Antragsgegner belastet, den Antragsteller vorübergehend nicht verteilen zu können. Zudem hatte es der Antragsgegner, wie dargestellt, in der Hand, eine Klärung der Sachlage und der Rechtmäßigkeit seines Bescheides herbeizuführen, so dass sein Interesse an einer sofortigen Vollziehung des Bescheides noch geringer einzuschätzen ist. Dies gilt auch in Ansehung von § 15a Abs. 4 Satz 8 AufenthG, wonach die Klage gegen die Verteilungsentscheidung grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung hat. [...]